Wissenschaftliche Politikberatung zwischen epistemischer und legitimatorischer Funktion. Textprozeduren der Relevanz-, Zuständigkeits- und Verantwortungszuschreibung

Projektbeschreibung

Wissenschaftliche Politikberatung war und ist Gegenstand vielfältiger, insbesondere sozialwissenschaftlicher Forschung. Umso überraschender ist es, dass eine linguistische und epistemologische Auseinandersetzung mit politikberatenden Texten als sozio-epistemischer Praxis bislang kaum stattgefunden hat. Das Kooperationsprojekt der TU Darmstadt und des KIT untersucht daher, inwiefern Textprodukte als Artefakte wissenschaftlicher Politikberatung einen neuen Zugang zu diesem Forschungsfeld eröffnen können, mit dem Ziel, eine auffällige Lücke in der Erforschung wissenschaftlicher Politikberatung zu schließen.

Ausgangshypothese ist, dass Wissenschaft, insbesondere wenn sie politikberatend tätig wird, vor dem Dilemma steht, gleichzeitig wissenschaftliche Glaubwürdigkeit bewahren und politische Wirksamkeit entfalten zu müssen. Dieses Dilemma verschärft oder entschärft sich je nach den wechselseitigen Rollen- und Kompetenzanforderungen und -erwartungen. Das Erkenntnisinteresse des Projekts richtet sich daher darauf, wie sich die gegenwärtige Praxis wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland in Form, Inhalt und Funktion sprachlich und erkenntnistheoretisch genauer bestimmen lässt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage, wie sich epistemische Qualität und gesellschaftliche Legitimation sprachlich und inhaltlich auf die (Ko-)Konstruktion von Orientierungswissen in politikberatenden Texten auswirken. Untersucht werden Texte verschiedener Gattungen zu den Themen „Bioenergie“ und „Wasser“ aus den letzten 20 Jahren, zunächst des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina).

Das Projekt soll darüber hinaus einen interdisziplinären Beitrag zur anhaltenden Kontroverse um die Verantwortung der Wissenschaft für gesellschaftliche Herausforderungen und die öffentliche Kommunikation ihrer Erkenntnisse leisten. Indirekt soll durch die dadurch ermöglichte kritische Selbst- und Sprachreflexion der Wissenschaft auch ein Beitrag zur öffentlichen Legitimierung der Wissenschaft als demokratische Institution geleistet werden.

Wir untersuchen daher folgende Zusammenhänge:

(1) Wie kann wissenschaftliches Wissen bewahrt werden, während es verarbeitet und mit- und umgestaltet wird?

Heute steht alles im Internet und kann auch in Zukunft jederzeit ausgewertet werden. Selbst die Politik beteiligt sich an diesen Online-Aktivitäten, indem sie z. B. politische Aussagen durch Pressemitteilungen untermauert. Wichtige Details der Wissensverarbeitung gehen dabei leicht verloren, so dass im Aufbereiten und Umformulieren beispielsweise der ursprüngliche Prozess der Wissens(ko)produktion auf der Strecke bleibt. Grundlegende Zusammenhänge geraten bei der „Übersetzung“ zwischen den jeweiligen Wissensordnungen, Kommunikationsparadigmen und -standards aus dem Fokus – ­nicht nur bei der digitalen Übertragung.

(2) Wie „verarbeitet“ die wissenschaftliche Politikberatung wissenschaftliche Erkenntnisse?

Wissenschaftliche Politikberatung ist eine besondere, hybride Form wissenschaftlicher Tätigkeit: In ihrer Beratungsfunktion steht die Wissenschaft in dem Konflikt, Inhalte wissenschaftlich glaubwürdig, unvoreingenommen und wertfrei darzustellen. Gleichzeitig muss sie diese Inhalte politisch wirksam, d. h. handlungsleitend und in einer für die Öffentlichkeit verständlichen Form, darstellen und ohne expliziten Kompetenzaufbau für Anwendungskontexte „nützlich“ machen können.

(3) Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wissenschaftliche Beratung Expertise und „tiefes Fachwissen“ liefern kann?

Es gibt eine spezifische Nützlichkeitsanforderung für wissenschaftliche Politikberatung, aber Verantwortung und Legitimität bei der Nutzung von Wissen sind ebenso wichtig. Nützlichkeit ist Teil guter wissenschaftlicher Praxis und wird als hinreichendes Kriterium für wissenschaftliches Wissen angesehen – Verantwortung und Legitimität werden nicht auf diese Weise definiert. Orientierungs- und Nützlichkeitskonzepte begleiten diese Ansätze, doch fehlt es oft an ausgefeilten Konzepten und der Integration verschiedener Ideen.

(4) Wie erklärt sich die Wissenschaft selbst? Wie erklärt sie, wie sie arbeitet und was sie herausfindet?

Wir untersuchen dieses Feld der Wissenschaftskommunikation und seine Artefakte, um den Prozess der Politikberatung und seine demokratische Kapazität zu hinterfragen. Anhand exemplarischer Fälle wird die Praxis der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland hinsichtlich Form, Inhalt und Funktion aus linguistischer und epistemologischer Perspektive untersucht. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, was das „Wissenschaftliche“ an dieser Politikberatung ist und wie sie Politik und Öffentlichkeit in die Lage versetzt, auf der Grundlage evidenzbasierten Wissens zu handeln.

Publikationen unserer Projektpartner

Jahaj, D. (2023)
Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie – eine diskursive Momentaufnahme? In: Pappert, Steffen; Roth, Kersten Sven (Hrsg.): Zeitlichkeit in der Textkommunikation. Tübingen: Narr (Europäische Studien zur Textlinguistik, Vol. 24). – im Erscheinen

Jahaj, D.; Rhein, L. (2023)
Beraten und Prognostizieren. Unsicheres Wissen in der institutionellen vs. der massenmedialen Politikberatung. Fachsprache 45 (1-2), S. 66-84
doi: 10.24989/fs.v45i1-2.2230

Jahaj, D.; Janich, N. (2022)
Nach bestem Wissen – Zum Umgang mit unsicherem Wissen im Kontext wissenschaftlicher Politikberatung. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 18/2. Themenheft „Kritik an Wissen“, hrsg. von Lisa Rhein und Sina Lautenschläger, S. 115-130
doi: 10.46771/9783967692679_2

Jahaj, D. (2022)
Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie – eine diskursive Momentaufnahme? Vortrag. Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) Sektionentagung 2022, 28.-30.09.2022 in Würzburg, Sektion Textlinguistik und Stilistik, Thema: Zeitlichkeit in der Textkommunikation

Janich, N. (2022)
Scientific uncertainties in policy advice – a linguistic perspective, Vortrag (Keynote). VAKKI Communication Research Association (Vaasa), Symposium „Responsible Communication“ 2022, 10.-11.02.2022

Publikationen


2023
Zeitschriftenaufsätze
Vorträge
Gondolf, J.
Scientific Responsibility and Legitimacy in Knowledge Translation Practices? Tracing Paradigms & Expectations Regarding Scientific Policy Advice in Germany (in &) after the Cov19-Pandemic
2023. STS-CH 2023 Conference “Science, Expertise and other Modes of Knowledge: Trends, Patterns, and Prospects” (2023), Basel, Schweiz, 31. August–1. September 2023 
Jahaj, D.; Janich, N.; Grunwald, A.; Gondolf, J.
Nach bestem Wissen? Veränderte Anforderungen und Erwartungen an Wissenschaft und Expertise – wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland vor, in und nach der Corona-Krise
2023, November 16. Jahrestagung Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung (2023), Dortmund, Deutschland, 16.–17. November 2023 
2022
Vorträge
Gondolf, J.
Is there philosophy in, of, or around RRI? And if any, how many ...
2022. Philosophy of Responsible Innovation / Dutch Research School of Philosophy (OZSW 2022), Online, 12.–21. Januar 2022 
Gondolf, J.
3 Os between Responsibility and Innovation: Open Science - Open Innovation - Open to the world
2022. International Interdisciplinary Graduate Summer School “Open science” (2022), Donostia-San Sebastián, Spanien, 18.–22. Juli 2022 
Janich, N.; Jahaj, D.; Grunwald, A.; Gondolf, J.
Wissenschaftliche Politikberatung: Transparenz und Öffentlichkeit durch Digitalität
2022. 10. Gestreamt, gelikt, flüchtig - schöne neue Kulturwelt? Internationale Konferenz des Netzwerks Technikfolgenabschätzung (NTA 2022), Bern, Schweiz, 14.–16. November 2022 
Poster
Gondolf, J.
Translating Knowledge, Open Questions and Uncertainties into Useful Information for those outside the Field
2022. 5th European Technology Assessment Conference (ETAC5 2022), Karlsruhe, Deutschland, 25.–27. Juli 2022 

Kontakt

Prof. Dr. Armin Grunwald
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Postfach 3640
76021 Karlsruhe

Tel.: 0721 608-22500
E-Mail