Arnold Sauter, Katrin Gerlinger

Pharmakologische Interventionen zur Leistungssteigerung als gesellschaftliche Herausforderung

Berlin: Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) 2011, TAB-Arbeitsbericht Nr. 143
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EINLEITUNG

Unter dem Begriff "Enhancement" - für den kein passendes deutsches Synonym existiert - werden seit einigen Jahren vor allem aus techniksoziologischer und bioethischer Per-spektive sowohl bio- und medizintechnische Entwicklungen als auch der veränderte Umgang wachsender Teile der Gesellschaft mit pharmakologisch wirksamen Substanzen ver-handelt. Es geht dabei um "Interventionen in den mensch-lichen Körper", die eine subjektive oder objektive Leistungssteigerung bewirken sollen, wozu im weiten Sinn auch eine Stimmungssteuerung oder kosmetische Veränderungen gezählt werden. Von bioethischer und naturwissenschaftli-cher Seite gibt es - neben vielen anderen Positionen - Forderungen nach einer intensiveren, systematischen Er-forschung leistungssteigernder Mittel und Methoden, im Gesundheits- und Sozialbereich dominieren Warnungen vor wachsenden inneren und äußeren Zwängen zum pharmakologischen "Alltagsdoping" im Kontext einer zunehmenden Dienstleistungs- und Wunscherfüllungsmedizin des zweiten Gesundheitsmarktes.

1. HINTERGRUND UND ZENTRALE ASPEKTE DES THEMAS

Eine besondere psychische, in vieler Hinsicht aber auch physische Leistungsfähigkeit gilt zunehmend als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche und persönliche Lebensgestaltung in modernen Industriegesellschaften. Dieser gesellschaftliche Trend manifestiert sich in verschiedenen Teilbereichen und wird durch unterschiedliche ökonomische, soziale und wissenschaftliche Entwicklungen beeinflusst. Als wissenschaftliche Basis einer möglichen Leistungsbeeinflussung werden zunehmend die pharmakologische und medizintechnische Forschung sowie deren Erkennt-nisse und Produkte thematisiert, die eigentlich der Behandlung von Krankheiten dienen und primär hierfür entwickelt werden. Durch etliche dieser Substanzen und Technologien könnten möglicherweise nicht nur psychische oder physische Probleme behandelt werden, sondern gezielt Teilaspekte des individuellen psychischen oder physischen Leistungsvermögens (z.B. Konzentrationsfähigkeit, Muskelkraft) über ein "normales" Maß hinaus gesteigert werden. Dabei werde es, so wird vielfach angenommen, zunehmend schwieriger, Grenzen zwischen medizinisch eindeutig indizierter, medizinisch ebenfalls begründbarer ("off label use") und medizinisch nichtindizierter, ggf. missbräuchlicher Verwendung pharmakologischer und (neuro)technischer Interventionsmöglichkeiten zu ziehen. Es sei zu erwarten, dass die dadurch mögliche individuelle Verbesserung der Leistungsfähigkeit zukünftig immer mehr Lebensbereiche durchdringe, ohne dass die Folgen einer solchen Entwicklung hin zu einem "Alltagsenhancement" ausreichend bekannt seien.

Als fördernde Faktoren für diese Entwicklung werden außer den wachsenden wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten insbesondere Veränderungen im gesellschaftlichen und individuellen Verständnis von Gesundheit und Krankheit angesehen sowie neue Verteilungsstrukturen für Produkte und Informationen (weltweite Verfügbarkeit, ohne dass traditionelle Kontrollstrukturen z.B. für Pharmaka greifen). Mehrere Projekte des TAB haben Hinweise auf eine zunehmende Entwicklung und Diffusion von Pharmaka und anderen medizinischen Verfahren einschließlich (neuro)technischer Interventionen zur Verbesserung der individuellen Leistungsfähigkeit in Alltagssituationen für Teilbereiche geliefert: die Projekte "Hirnforschung" (Hennen et al. 2008 u. TAB 2007), "Converging Technologies" (TAB 2008a) sowie "Gendoping" (Gerlinger et al. 2008 u. TAB 2008b). Auch andere deutsche und europäische Einrichtungen der Technikfolgenabschätzung haben sich in den vergangenen Jahren mit dem Thema Enhancement befasst, darunter die Europäische Akademie zur Erforschung und Beurteilung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen (Merkel et al. 2007), die European Technology Assessment Group im Auftrag von STOA, der TA-Einrichtung des Europäischen Parlaments (Coenen et al. 2009), TA-SWISS, die schweizerische parlamentarische TA-Institution (mit Projektabschluss im Jahr 2011; www.ta-swiss.ch) sowie das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) mit einem Schwerpunkt bei Nano- und Neurotechnologien bzw. Converging Technologies (u.a. Fiedeler 2008; Grunwald 2008; ITAS 2009).

2. BEAUFTRAGUNG, ZIELSETZUNG UND VORGEHENSWEISE

Nach wie vor bestehen jedoch große Unsicherheiten in Bezug auf viele der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten, deren Entwicklungsstand und daraus resultierender Zeithorizonte für eine breitere Diffusion, ebenso über mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen sowie über das Ausmaß und die Ausprägung von gesellschaftlichen Folgedimensionen. Deshalb ist das TAB vom Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages mit einem Projekt zum Thema "Pharmakologische und technische Interventionen zur Leistungssteigerung - Perspektiven einer weiter verbreiteten Nutzung in Medizin und Alltag" (Kurztitel: "Enhancement") beauftragt worden.

Das Projekt sollte - basierend auf einer Bestandsaufnahme erkennbarer Tendenzen - Ursachen für die Nutzung von pharmakologischen und technischen Interventionen zur Leistungssteigerung, mögliche Folgedimensionen sowie daraus ableitbare Fragestellungen für Politik und Gesellschaft thematisieren. Die Herausforderung dieses TA-Projekts bestand darin, die Vielfalt wissenschaftlicher Entwicklungen, relevanter Technologiefelder und möglicher gesellschaftlicher Auswirkungen umfassend, aber fokussiert auf politisch relevante Fragestellungen darzustellen und zu analysieren. Hierfür wurde das Projekt in zwei Phasen unterteilt, eine Explorations- und eine Vertiefungsphase.

ERGEBNISSE DER EXPLORATIONSPHASE

Die Explorationsphase diente einer breiter angelegten Bestandsaufnahme. Neben einer Erhebung und Auswertung abgeschlossener und laufender Untersuchungen zum Thema Enhancement durch die Projektbearbeiter des TAB wurden sechs Gutachten vergeben: zum Stand der Erforschung und Entwicklung relevanter Psychopharmaka, zum Vergleich kognitiver Enhancementtrainings mit pharmakologischen und technischen Interventionen, zu Lebensmitteln, die als leistungssteigernd beworben werden, sowie zur sozialwissenschaftlichen, zur ethischen und zur rechtlichen Debatte der Thematik (Kap. I.3). Eine vorläufige Auswertung der Ergebnisse der Gutachten wurde auf einem internen Workshop mit den Gutachterinnen und Gutachtern ausführlich diskutiert. Als Ausgangspunkt für die Schwerpunktsetzung in der Vertiefungsphase ergaben sich die folgenden Einschätzungen.

ARBEITSDEFINTION VON ENHANCEMENT UND SYSTEMABGRENZUNG

Die Konturen des Untersuchungsgegenstandes Enhancement erscheinen auch nach Jahren der wissenschaftlichen Auseinandersetzung unscharf. Unter dem Begriff, für den kein passendes deutsches Synonym existiert, werden von vielen Experten in unterschiedlichen Kontexten, Projekten und Publikationen verschieden weitgefasste "Interventionen in den menschlichen Körper" verstanden. Die im Projekttitel enthaltene Fokussierung auf eine "weiter verbreitete Nutzung pharmakologischer und technischer Interventionen zur Leistungssteigerung in Medizin und Alltag" schließt zwar z.B. rein kosmetische Eingriffe aus, lässt aber immer noch ein weites Untersuchungsfeld zu. Diese Unschärfe resultiert mindestens aus vier Gründen:

Eine präzise Definition von Enhancement ist daher kaum zu leisten. Für die Vertiefungsphase des TA-Projekts erfolgte mit Blick auf die kurz- und mittelfristige gesellschaftliche und politische Bedeutung eine Eingrenzung auf pharmazeutisch wirksame Stoffe, d.h., im engeren Sinn technische (Neuroimplantate u.Ä.) sowie biomedizinische Interventionen (z.B. genetische Manipulationen) wurden nicht behandelt. Diese Ansätze befinden sich zum größten Teil in so frühen Entwicklungsphasen, dass die Frage nach ihrer möglichen zukünftigen Nutzung für eine Leistungssteigerung in Beruf und Alltag allenfalls spekulativ beantwortet werden könnte.

VORLÄUFIGE BEFUNDE ZUR NUTZUNG VON ENHANCEMENTMITTELN

In den Fokus des Projekts wurden plausible Projektionen beobachtbarer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Trends der Verwendung von Pharmaka als Enhancementmittel in Beruf und Alltag gestellt. Bei diesen handelt es sich vorrangig um Psychopharmaka, welche die Stimmung, die Wachheit und Aufmerksamkeit oder die Gedächtnisleistung beeinflussen (sollen). Typische Mittel zur physischen Leistungssteigerung sind vor allem aus dem Doping im Leistungs-, Fitness- und Breitensport bekannt. Die Befunde zur Verwendung pharmakologischer Enhancementmittel aus der Explorationsphase ergaben das folgende vorläufige Bild:

THEMEN DER VERTIEFUNGSPHASE

In der Vertiefungsphase des TA-Projekts wurden zwei Entwicklungspfade der künftigen Verwendung von Arzneimitteln zur Leistungssteigerung näher betrachtet:

Für eine Vertiefung der Frage nach den Ursachen und Motiven von Enhancement wurde darüber hinaus das Doping im (Leistungs- und Breiten-)Sport dahingehend untersucht, welche der dort prägenden Verhaltensformen und Systembedingungen auch für Enhancement in Berufs- und Alltagssituationen relevant sein könnten. Zu diesen Themen wurden drei weitere Gutachten vergeben (Kap. I.3).

Die Ergebnisse der Gutachten und Literaturauswertungen aus beiden Projektphasen wurden im vorliegenden Endbericht zusammengeführt.

3. KOOPERATION MIT GUTACHTERINNEN UND GUTACHTERN

Folgende Gutachten wurden in der Explorationsphase vergeben:

In der Vertiefungsphase wurden folgende Gutachten vergeben:

Mit allen Gutachterinnen und Gutachtern erfolgte während und nach Erstellung der Gutachten ein intensiver Austausch. Zur Kommentierung von Teilen des Berichtsentwurfs konnte Prof. Dr. Klaus Lieb von der Universität Mainz gewonnen werden. Allen Beteiligten sei herzlich für die engagierte und geduldige Kooperation gedankt. Unter den Kollegen in TAB und ITAS waren dies Dr. Christoph Revermann, der bis zur Erstellung des Abschlussberichts das Projekt mit bearbeitet hat, sowie Christopher Coenen und einmal mehr insbesondere Dr. Thomas Petermann, die durch Gegenlesen und detailliertes Kommentieren zur Verbesserung des vorliegenden Berichts entscheidend beigetragen haben. Ein besonderer Dank gebührt den Kolleginnen B.-Ulrike Goelsdorf für die gründliche Durchsicht des Manuskripts und das Endlayout sowie Johanna Kniehase für die Erstellung der Grafiken. Alle verbleibenden Unzulänglichkeiten liegen in der Verantwortung des Verfassers und der Verfasserin, Dr. Arnold Sauter und Dr. Katrin Gerlinger.

 

Erstellt am: 04.11.2011 - Kommentare an: webmaster