Arnold Sauter, Katrin Gerlinger

Pharmakologische Interventionen zur Leistungssteigerung als gesellschaftliche Herausforderung

Berlin: Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) 2011, TAB-Arbeitsbericht Nr. 143
[Inhalt]


ZUSAMMENFASSUNG

"Doping fürs Gehirn", "Kosmetik für graue Zellen", "Pillen für den besseren Men-schen" - Überschriften wie diese spiegeln seit einigen Jahren das öffentliche Interesse an einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung wider, die eine Steigerung der menschlichen Leistungsfähigkeit zum Gegenstand hat und in der bioethischen Debatte vor allem unter dem Begriff "Enhancement" behandelt wird. Es bestehen je-doch große Unsicherheiten in Bezug auf den Entwicklungsstand und die Verbreitung der unterschiedlichen Verfahren, über mögliche körperliche und psychische Wirkun-gen und Nebenwirkungen sowie über das Ausmaß und die Ausprägung sozioökonomischer Folgen.

Um die aktuelle und mittelfristige gesellschaftliche und politische Bedeutung des Themas Enhancement besser einschätzen zu können, hat der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) mit einem TA-Projekt zum Thema "Pharmakologische und technische Interventionen zur Leistungssteigerung - Perspektiven einer weiter verbreiteten Nutzung in Medizin und Alltag" beauftragt. Der Abschlussbericht des Projekts konzentriert sich auf bisherige Entwicklungen und plausible Fortschreibungen von Trends der Verwendung von (Psycho-)Pharmaka zur Leistungssteigerung in Beruf und Alltag. Technische (Neuroimplantate u.Ä.) und biomedizinische Interventionen (z.B. genetische Manipulationen) werden nicht behandelt, weil ihre gezielte Nutzung für eine verbreitete Leistungssteigerung gesunder Menschen ein höchstens langfristig vorstellbares Szenario darstellt.

MENSCHLICHE LEISTUNG UND IHRE PHARMAKOLOGISCHE BEEINFLUSSUNG

In der Enhancementdebatte wird die besondere gesellschaftliche Relevanz meist durch einen Verweis auf die mögliche individuelle und/oder kollektive Leistungssteigerung begründet. Selten wird aber genauer spezifiziert, was unter menschlicher Leistung verstanden wird und warum deren Steigerung nützlich wäre.

Im Unterschied zum physikalisch-technischen Leistungsverständnis, bei dem Leistung über den erbrachten Aufwand definiert wird, gehört zur menschlichen Leistung auch das erreichte Ergebnis. Der nötige Aufwand kann durch unterschiedliche individuelle Fähigkeiten (bzw. Organfunktionen) und deren zielgerichtete Anwendung erbracht werden. Da die verschiedenen Aufwands- und Ergebniskomponenten sehr vielfältig sein können, gilt die menschliche Leistung als qualitative Größe, die nur ansatzweise mithilfe von Kennziffern und darauf aufbauenden Messkonzepten quantifiziert werden kann. Damit einher geht die "Gefahr", menschliche Leistung zu reduzieren auf das, was durch diese Kennziffern definiert und gemessen wird. Grundsätzlich zu unter-scheiden sind physische von psychischen Leistungen.

Viele Sportarten basieren auf der exakten und vergleichenden Messung physischer Leistung als Ergebnis einer definierten Handlung. Mit Blick auf die Aufwandskompo-nente spielen die Skelettmuskulatur und die dort ablaufenden physiologischen Prozes-se eine besondere Rolle. Je stärker eine definierte Leistung auf eine Muskeltätigkeit zurückgeführt werden kann, desto eher kann durch einzelne Mittel und Methoden in relevante Prozesse eingegriffen werden. Doping - als pharmakologische Steigerung einer definierten sportlichen Leistung - wirkt daher in gewissem Umfang, gleichzeitig hat es zahlreiche Nebenwirkungen.

Die Situation bei psychischen, speziell kognitiven Leistungen ist hingegen weit komplexer. Dies betrifft sowohl die zugrundeliegenden biologischen Prozesse als auch die Messverfahren, insbesondere aber die Bewertung der erzielten Ergebnisse. Diese ist stark kontextabhängig, z. B. von spezifischen Anforderungen in Ausbildungs- und Arbeitsumgebungen. Vergleichende Mess- und Bewertungsverfahren existieren vor allem auf hoch aggregierter Ebene, z. B. in Form von beruflichen Leistungsbeurteilungen oder Bildungsabschlüssen.

Richtet man den Blick auf die physiologische Aufwandskomponente, so spielen insbesondere das Gehirn und seine vielfältigen Fähigkeiten und Funktionen die entscheidende Rolle. Trotz der großen neurowissenschaftlichen Wissensfortschritte können nach wie vor lediglich Teilprozesse der Funktionsweise des Gehirns erklärt werden. An den hochkomplexen und bisher nur teilweise verstandenen Hirnprozessen setzen unterschiedliche Strategien der Beeinflussung an. Das Gehirn funktioniert aber bei Weitem nicht so einfach wie ein Muskel, und eine gezielte leistungsrelevante Beeinflussung, wie beim Doping im Sport, ist zumindest fraglich. Selbst wenn es gelingen sollte, einzelne Funktionen gezielt anzuregen, sagt dies nichts über eine mögliche Pra-xisrelevanz der Effekte aus, weil davon auszugehen ist, dass unterschiedliche kognitive, aber auch sonstige psychische Fähigkeiten emotionaler und sozialer Art eine geistige Leistung, zumal im Arbeitsleben, erst in ihrem Zusammenspiel ermöglichen. Ob pharmakologisches Enhancement eine praxisrelevante Leistungssteigerung erbringen kann, ist eine bislang offene Frage.

Bei Aussagen über leistungssteigernde Effekte unterschiedlicher Mittel und Methoden ist stets zu spezifizieren, auf welche Ziele sich diese Aussagen beziehen und von welchem Ausgangspunkt aus die jeweilige Steigerung erreicht wurde. Die möglichen Verfahren, mit denen unterschiedliche Fähigkeiten eines Individuums beeinflusst werden können, sind vielfältig. Von besonderer Relevanz im Kontext von Enhancement erscheinen folgende Strategien.

KONDITIONIERUNG DES ORGANISMUS DURCH LERNEN UND TRAINING

Es steht außer Frage, dass pädagogisch und psychologisch fundierte Lernmethoden das individuelle Fähigkeitsspektrum stärken und erweitern und damit die individuellen Grundlagen fundamental verbessern können, durch die menschliche Leistungen er-bracht werden. Entsprechende Maßnahmen zielen nicht darauf ab, in einzelne biochemische neurologische Selbstregulierungsmechanismen einzugreifen, auch wenn diese durchaus betroffen sein können. Die Wirksamkeit von Lehr- und Lernmethoden wird in der Enhancementdebatte auch kaum infrage gestellt. Spekuliert wird vielmehr darüber, inwiefern diese möglicherweise ergänzt, verstärkt, verbessert oder gar ersetzt werden könnten.

WIRKUNG VON NAHRUNGSBESTANDTEILEN

Ob Nahrungsbestandteile in den Konzentrationen, in denen sie in Lebensmitteln ent-halten sein dürfen, jenseits der ernährungsphysiologischen auch spezifische leistungssteigernde Effekte haben können, ist unklar bzw. umstritten. Wirksamkeits- und Werbeaussagen von Anbietern entsprechender Produkte konnten jenseits von Effekten durch den Ausgleich von Mangelzuständen durch wissenschaftliche Studien bisher nicht belegt werden.

Die immer wieder genannten Beispiele Kaffee und Tee als seit Langem verfügbare wirkungsvolle, nebenwirkungsarme Enhancementsubstanzen bilden eine gewisse Ausnahme. Unstrittig ist, dass in Ermüdungsphasen durch den Konsum von Kaffee oder Tee die körperliche Wachheit verbessert werden kann. Dieser Effekt wird vor allem der psychostimulierenden Substanz Koffein zugeschrieben, welche als natürlicher Bestandteil unterschiedlicher Pflanzen in gewissen Konzentrationen in Lebensmitteln enthalten sein darf. Dennoch gilt Koffein als Wirk- und nicht als Nährstoff, und ab bestimmten Konzentrationen, ab denen der Substanzkonsum mit verstärkten Nbenwirkungen einhergeht, gelten koffeinhaltige Produkte als Arzneimittel (s.u.). Diese historisch gewachsene Sonderstellung kann nicht sinnvoll auf neue potenzielle Enhancementsubstanzen übertragen werden. In den jüngsten Debatten zur sogenannten Health-Claims-Verordnung im Deutschen Bundestag wurde deutlich, dass weitgehender politischer Konsens besteht, pharmakologisch wirksame Substanzen nicht als Lebensmittelbestandteile zuzulassen.

WIRKUNGSPROFILE PHARMAKOLOGISCHER SUBSTANZEN BEI GESUNDEN

Pharmakologische Substanzen wirken auf unterschiedliche körpereigene Steuerungsprozesse ein. Vor allem in der Kombination mit Training lassen sich einzelne Dimensionen der physikalischen (z.B. Ausdauer oder Kraft) oder motorischen Fähigkeiten (z.B. Fingerfertigkeiten oder präzise Bewegungen) beeinflussen. Aufgrund deren langjähriger Verwendung zur Leistungssteigerung im Sport werden - trotz der geringen Transparenz bei dieser Thematik - sowohl die Wirkungen als auch die vielfältigen, teilweise gravierenden Nebenwirkungen nicht in Abrede gestellt.

Im Kontext der Verbesserung psychischer Fähigkeiten werden unterschiedliche Strategien verfolgt, um vor allem im Gehirn die Aktivität der Nervenzellen zu erhöhen, vorrangig indem in Prozesse der aktivierenden Neurotransmitter Dopamin und Noradrena-lin eingegriffen wird. Zur Stimmungsaufhellung wird auch in die Prozesskette von Serotonin eingegriffen. Für Substanzen aus dem Bereich der Heilpflanzen und Naturmedizin (z.B. Ginkgoextrakte) gibt es bisher keine anerkannten leistungsrelevanten Wirksamkeitsbelege. Der Wirkungsnachweis, dass spezifisch wirksame Psychopharmaka bei gesunden Menschen tatsächlich zu einer leistungsrelevanten Verbesserung einzelner Fähigkeiten führen können, gilt bisher insgesamt noch nicht als erbracht. Das Nebenwirkungspotenzial dieser Substanzen ist erwiesenermaßen erheblich. Dies wurde teils erst unter langjährigen Anwendungsbedingungen in vollem Ausmaß deutlich und führte vielfach zur Revision der Nutzen-Risiko-Bewertung und entsprechenden Zulassungs- und Anwendungseinschränkungen. Insbesondere zu folgenden psychostimulierenden Substanzen wurden bislang Wirkungsaussagen mit Blick auf eine Leistungssteigerung bei Gesunden gemacht:

Amphetamine: Mehrere Reviews verfügbarer Studien sprechen dafür, dass Amphetamine kognitive, insbesondere exekutive Fähigkeiten steigern können (Aufmerksamkeit, Reaktionszeit). Positive Effekte traten insbesondere nach Schlafdefiziten und/oder bei Personen mit tendenziell geringer ausgeprägtem Arbeitsgedächtnis auf. Bei ohnehin guten Ausgangssituationen (kein Schlafdefizit, gute Arbeitsgedächtnisleistungen) führten Amphetamine eher zu Leistungsverschlechterungen.

Methylphenidat: Die Wirkungsaussagen hierzu sind in unterschiedlichen Studien widersprüchlich. Bereits zur Frage, ob müdigkeitsbedingte Fähigkeitseinschränkungen ausgeglichen werden können, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Ob neben der Erhöhung der Wachheit eine explizite Verbesserung kognitiver Fähigkeiten bei Gesunden möglich ist, bleibt umstritten. Es gibt Anzeichen, dass Personen mit schwächerem Arbeitsgedächtnis durch den Substanzkonsum bestimmte Fähigkeiten eher verbes-sern können. Bei Personen mit ohnehin hohem Arbeitsgedächtnis stiegen durch den Substanzkonsum die Fehlerhäufigkeiten, und die Ergebnisse bei Leistungstests verschlechterten sich.

Modafinil kann ähnlich wie Koffein Ermüdungserscheinungen reduzieren. Ob darüber hinaus auch kognitiv leistungssteigernde Effekte mit dem Substanzkonsum einhergehen, ist unklar. Bei Modafinil gibt es leichte Indizien, dass Personen mit geringeren IQ-Werten eher profitieren.

Durch Beta-Blocker können menschliche Leistungen, die besondere feinmotorische Fähigkeiten erfordern, bei erhöhter Aufregung - z. B. in Form von sogenanntem Lampenfieber - sicherer erbracht werden.

Es gibt einzelnen Hinweise, dass Levodopa, das zur Behandlung von Dopaminmangel u.a. bei Parkinson eingesetzt wird, zu Verbesserungen bei einfachen assoziativen Lernleistungen führen kann und dass die ähnlich verwendete Substanz Tolcapon selektiv bei Personen, die genetisch bedingt Dopamin schneller abbauen, zu Verbesserungen bei exekutiven Fähigkeiten und des episodischen Gedächtnisses führt. Für die - schon therapeutisch nur schwach wirksamen - Antidementiva genauso wie für die Substanzgruppe der Antidepressiva konnten hingegen bislang bei Gesunden keinerlei Effekte in Bezug auf psychische Fähigkeiten oder gar Leistungen belegt werden.

In der Gesamtschau lässt sich feststellen, dass es derzeit keine Belege gibt, dass verfügbare Substanzen wirkungsvoll menschliche Leistungen steigern können und gleich-zeitig nebenwirkungsarm sind. Effekte lassen sich lediglich in Bezug auf einzelne kognitive Fähigkeiten (z.B. Aufmerksamkeit, Reaktionszeit) nachweisen, von denen man allerdings teilweise annimmt, dass sie in heutigen Ausbildungs- und Arbeitsumgebungen eine besondere Relevanz haben.

Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass Wirksamkeitsuntersuchungen von Arzneimitteln normalerweise nicht an gesunden Probanden durchgeführt werden (s. u.), sodass die diesbezügliche Wissensbasis äußerst gering ist. Dennoch deutet einiges dar-auf hin, dass die physische und psychische Verfassung der als gesund definierten Versuchsteilnehmer einen wichtigen Bestimmungsfaktor für die Wirksamkeit unterschiedlicher pharmakologischer Substanzen darstellt. Einiges spricht dafür, dass die bisher verfügbaren Substanzen - wenn überhaupt - lediglich in den Fällen leistungsrelevante Effekte hatten, in denen sich die Probanden in einer gewissen defizitären Ausgangssi-tuation befanden. Auch spricht einiges dafür, dass bei Probanden mit einem hohen Ausgangsniveau eine zusätzliche Aktivierung des allgemeinen Wachheitszustands oder eine Erhöhung von Neurotransmitterkonzentrationen eher zu schlechteren kognitiven Leistungen führten.

ENHANCEMENTSUBSTANZEN: RECHTLICHE ABGRENZUNG, NORMATIVER UMGANG UND VERBREITUNG

Die Vorgaben des derzeitigen Regulierungssystems üben entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung, Verbreitung und Nutzung möglicherweise leistungssteigernder Substanzen aus. Auch wenn potenzielle Enhancementsubstanzen sehr wahrscheinlich unter das Arzneimittelrecht fallen werden, ist es, um Enhancement in seiner Komplexität zu erfassen, nötig, auch den Grenzbereich zu Lebensmitteln zu thematisieren, da dieser voraussichtlich als Wegbereiter und Wunschverstärker fungiert.

NORMATIVER UMGANG MIT LEBENSMITTELN

In Lebensmitteln können neben Nährstoffen weitere Substanzen enthalten sein, jedoch dürfen diese - über die ernährungsphysiologische Wirkung hinaus - keine "besondere" Wirksamkeit auf den Organismus haben. Vor diesem Hintergrund wird Lebensmitteln zunächst keine negative Wirkung respektive Gesundheitsgefahr unterstellt, und vom Verbraucher wird im Umgang ein vernünftiges Ermessen erwartet. Die Verkehrsfähigkeit von Lebensmitteln ist kaum beschränkt, sie können entsprechend ihrem natürlichen biologischen Vorkommen ohne Zulassungsverfahren in den Verkehr gebracht werden.

Zum Schutz der Gesundheit können jedoch Einschränkungen festgelegt werden. Aufgrund der zunehmenden Möglichkeiten, einzelne Substanzen einem Lebensmittel zusätzlich beizumengen oder zu entziehen, kann die mit ausgewogener Ernährung allgemein übliche Aufnahmemenge dieser Substanzen erheblich über- oder unterschritten werden, wodurch entsprechende Stoffgemische zunehmend sowohl ernährungsphysiologische als auch spezifischere gesundheitsfördernde oder -gefährdende Eigenschaften besitzen können. Für diese wurden teilweise neue Kategorien (z.B. Nahrungsergänzungsmittel) eingeführt und der normative Umgang in Richtung Arzneimittelrecht angepasst (z. B. Festlegung von Dosisgrenzen, Marktzugang geknüpft an Zulassung).

Im Lebensmittelrecht ist kein Wirkungsnachweis von Lebensmittelbestandteilen ver-ankert. Hersteller haben eine gewisse Informationsverantwortung, die z. B. Irreführung ausschließt und krankheitsbezogene Aussagen bis auf Ausnahmen verbietet. Seit In-krafttreten der Health-Claims-Verordnung (HCVO) müssen allgemein wirkungsbezogene bzw. gesundheitsbezogene Aussagen anhand wissenschaftlich hinreichend gesicherter Daten belegt werden und sind genehmigungspflichtig. Über mögliche Gesund-heitsrisiken durch den Konsum von Lebensmitteln müssen Hersteller in Europa nicht informieren.

Gegenwärtig rücken spezifische Wirkmechanismen einzelner Lebensmittel oder Le-bensmittelbestandteile zunehmend in den Forschungsfokus, da Lebensmitteln mit ge-sundheitlichem Zusatznutzen große Marktpotenziale zugesprochen werden. Der ver-langte Nachweis einer gesundheitsbezogenen Wirksamkeit - speziell bei psychologischen und Verhaltensfunktionen - bei gleichzeitigem Verbot krankheitsbezogener Aussagen dürfte die Entwicklung von Konzepten fördern, wie ein (gesundheitlicher Zusatz-)Nutzen in Richtung Enhancement ohne Vorliegen eines krankhaften Zustands belegt werden kann.

NORMATIVER UMGANG MIT ARZNEIMITTELN

Arzneimittel werden definiert als Stoffe oder Stoffgemische mit einer besonderen (pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen) Wirkung auf den menschlichen Organismus. Aufgrund der Wirkmächtigkeit der Stoffe und zum Schutz der Gesundheit (vor schädlicher Wirkung) gründet sich das Arzneimittelrecht auf ein "Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt". Um Arzneimittel herstellen und in den Verkehr bringen zu dürfen, ist eine Zulassung erforderlich, die auf einem Wirkungsnachweis der jeweiligen Substanz aufbaut, für die der Hersteller die Beweislast trägt. Für Neuzulassungen muss er mittels wissenschaftlich anerkannter Verfahren (klinische Studien) sowohl die Verträglichkeit bzw. Sicherheit (Risikodimensionen) als auch die medizinische, meist therapeutische Wirksamkeit (Nutzendimension) untersuchen und nachweisen. Die Marktzulassung wird dann für die Behandlung des spezifischen krankheitsrelevanten Zustands gewährt, für den der Hersteller den therapeutischen Nutzen nachgewiesen hat. Die Pflichtinformationen zu den Wirkungen und Nebenwirkungen des Arzneimittels werden im Zulassungsverfahren ebenfalls geprüft und festgelegt.

Nicht nur Arzneimittel selbst, sondern auch die für deren Zulassung nötigen Arzneimittelstudien sind genehmigungspflichtig. Unabhängige Ethikkommissionen und die Zulassungsbehörden prüfen anhand international weitgehend gleicher ethischer Standards, deren Kern eine Abwägung des potenziellen Nutzens gegenüber dem Risiko, dem die Versuchsteilnehmer ausgesetzt sind, bildet. Das übliche Verfahren zur Bestimmung eines Nutzenkriteriums ist die Festlegung eines krankheitsrelevanten Zustands als Ausgangspunkt, von dem aus ein therapeutischer Effekt der Substanz belegt wird. Die therapeutische Wirksamkeit wird dementsprechend durch die Behandlung erkrankter Probanden nachgewiesen.

Diese fallspezifische, krankheitsbezogene Nutzen-Risiko-Abwägung stellt eine Barrie-re dar, welche die gezielte Erforschung möglicher Enhancementeigenschaften pharmakologischer Substanzen begrenzt. Diese Barriere ist jedoch keineswegs unüberwindbar, denn die therapeutische Nutzendefinition kann teilweise weit ausgelegt werden. So forscht bereits heute die pharmazeutische Industrie auch in den Grenzgebieten krankheitsrelevanter Zustände, z.B. zur eher präventiven Behandlung leichter Demenzen.

Im Zulassungsverfahren prüft die jeweilige Behörde die Studienergebnisse und wägt die nachgewiesene therapeutische Wirksamkeit gegen erkennbare gesundheitliche Risiken ab. Eine Substanzzulassung zu Enhancementzwecken ist damit eigentlich ausgeschlossen. Eine Zulassung wird für die medizinische Indikation erteilt, für die eine Substanzwirksamkeit nachgewiesen wurde, wenn die Einhaltung vorgegebener Sicherheits- und Qualitätsstandards der Herstellung gewährleistet werden kann.

Auf welchem Weg die Substanz im Anschluss zum Verbraucher kommt, hängt von der Art der Verkehrsfähigkeit ab, die bei der Zulassungserteilung substanzbezogen festgelegt wird. Je nach Gefährdungspotenzial der Substanz wird der Zugang über ein abgestuftes "Gatekeepersystem" (Apotheken, Ärzte) geregelt. Besonderes Augenmerk wird auf die Weitergabe von Wirkstoffinformationen gelegt. Diese müssen der Forschung und dem Gatekeepersystem umfassend zur Verfügung gestellt werden, Verbraucher sollen vor allem vor einseitigen (Wirkungs-)Aussagen geschützt werden (woraus Werbeeinschränkungen oder -verbote resultieren). Da Wirkungsaussagen wissenschaftlich belegt sein müssen und Enhancementwirkungen nicht direkt untersucht werden, wären entsprechende Aussagen in den Pflichtinformationen gegenwärtig nicht zulässig.

In der Praxis zeigt sich jedoch, dass es zahlreiche Umgehungsstrategien des Direktwerbeverbots gibt, die insbesondere darauf abzielen, eine Nachfrage u.a. nach leistungssteigernden Substanzen zu erzeugen. Am deutlichsten wird dies, wenn über Werbematerial körperliche und psychische Zustände systematisch pathologisiert und mögliche Verbesserungen in Aussicht gestellt werden. Für den Verbraucher ist es schwer bis unmöglich, in der Vielfalt von Angeboten neutrale und wissenschaftlich fundierte von einseitiger, unvollständiger oder falscher Information zu trennen.

Anders als im Lebensmittelrecht wird dem Verbraucher im Arzneimittelrecht nicht unterstellt, dass er allein und vollumfänglich über die - gesundheitsförderliche - Verwendung von Arzneimitteln entscheiden kann. Er kann und soll auf das öffentliche Gesundheitssystem zurückgreifen und sich beraten lassen. Rezeptpflichtige Arzneimittel erhält er nur über einen Arzt. Für diesen sind Erhalt und Wiederherstellung der Gesundheit seiner Patienten oberstes Handlungsgebot. Mit dem Gatekeepersystem soll sichergestellt werden, dass die Verwendung von Arzneimitteln mit möglichst geringen gesundheitlichen Risiken für den Verbraucher einhergeht. Es bietet aber keine Garantie, dass ein Arzneimittel nur im Rahmen der zugelassenen Indikation verwendet wird. Eine Substanz kann vielmehr prinzipiell auch jenseits der Zulassung ("off label"), z. B. zu Enhancementzwecken, verwendet werden. Erste Analysen der Arzneimittelverordnungen von Methylphenidat und Modafinil liefern Hinweise, dass Off-Label-Verschreibungen wohl nicht nur Randerscheinungen sind.

Im Krankheitsfall werden die Behandlungskosten weitgehend von den Krankenkassen übernommen (erster Gesundheitsmarkt). Durch die zunehmende Leistungsbeschränkung anhand der Kriterien "ausreichend, zweckmäßig und notwendig" wird eine ungewollte Finanzierung von denkbaren Enhancementmittelverschreibungen stark begrenzt. Der Ausschluss aus dem ersten kann eine Verschiebung in den zweiten Gesundheitsmarkt (der Selbstzahler), der insbesondere für Gatekeeper (Apotheker, Ärzte) zunehmend betriebswirtschaftlich relevant wird, bewirken. Allerdings stellen das vorhandene, teilweise erhebliche Nebenwirkungsspektrum von potenziellen Enhancementsubstanzen sowie das Dopingverbot des Arzneimittelgesetzes hohe Barrieren gegenüber einer großflächigen Ausdehnung möglicher Gefälligkeitsverschreibungen dar.

Treten infolge des Konsums von Lebens- oder Arzneimitteln - egal, ob sach- oder unsachgemäß - gesundheitliche Beeinträchtigungen auf, fällt die Folgenbehandlung bislang ursachenunabhängig in den Handlungsauftrag der Ärzte und den Leistungskatalog der Krankenkassen wie auch weiterer Sozialleistungsträger. Es ist schwer vorstellbar, dass bei Beibehaltung der gegenwärtigen Prinzipien des deutschen Sozialrechts sich die Kostenträger einer Leistungsübernahme im Spezialfall Enhancement würden verschließen können. Folglich würde die Behandlung zunehmender möglicher Folgeschäden durch Enhancementverhalten wohl kollektiv finanziert werden.

NUTZUNG VON UND UMGANG MIT ENHANCEMENTSUBSTANZEN

Im Rahmen der deutschen Rechtsordnung kann der Konsum bestimmter, auch gesundheitsschädlicher Substanzen (z.B. Dopingmittel oder illegale Drogen) de jure nicht verboten werden, sondern lediglich der Umgang mit ihnen bzw. Handlungen Dritter, die diesen Umgang befördern könnten. In Deutschland sind ca. 1,4 bis 1,9 Mio. Menschen von rezeptpflichtigen psychotropen Arzneimitteln abhängig, weitere 1,7 Mio. Personen werden als mittel- bis hochgradig gefährdet eingestuft. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil dieser Personen ein solches Verhalten entwickelt, obwohl sie ursprünglich "nur" ihre Leistungen in beruflichen Umgebungen zumindest erhalten, vielleicht auch verbessern wollten. Erste empirische Studien liefern Hinweise auf das Ausmaß der Verwendung pharmakologischer Substanzen zur Leistungssteigerung in Ausbildungs- und Arbeitsumgebungen. In einer Befragung im Auftrag der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK) zum Thema "Doping am Arbeitsplatz" gaben 5 % der Befragten an, dass sie selbst schon potente Arzneimittel ohne medizinische Notwendigkeit genommen hatten, 2,2 % taten dies häufig bis regelmäßig. In einer Befragung von Schülern und Studenten in Deutschland gaben 1,5 % der Schüler und 0,8 % der Studenten an, schon einmal rezeptpflichtige Arzneimittel zu Enhancementzwecken eingenommen zu haben. Ähnlich Werte wurden auch in anderen europäischen Studentenbefragungen ermittelt. In den USA gaben ca. 7 % ein solches Verhalten zu.

Anders als beim Doping im Sport, bei dem eine weitreichende gesellschaftliche Ablehnung in weiten Teilen der Öffentlichkeit beobachtet werden kann, scheint bei der Verwendung von potenziell leistungssteigernden Substanzen in Alltags- oder Arbeitsumgebungen die Ablehnung eines solchen Verhaltens gesellschaftlich nicht so stark ausgeprägt zu sein. Zwar lehnte die Mehrheit der im Auftrag der DAK Befragten "Dopingverhalten" am Arbeitsplatz ab, dennoch akzeptierte etwa jeder vierte beispielsweise die generelle Steigerung der Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Konzentrationsleistungen als Grund für ein solches Verhalten, gefolgt von dem Wunsch, die Müdigkeit während der Arbeitszeit zu senken sowie die Arbeitszeit bei Termindruck verlängern zu können. Zumindest zur Erreichung der letzten beiden Zielsetzungen können manche der verfügbaren pharmakologischen Substanzen einen gewissen Beitrag leisten.

DEBATTE ÜBER ENHANCEMENT IN ETHIK UND SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bislang existieren also praktisch keine pharmakologischen Substanzen, für die eine relevante kognitive leistungssteigernde Wirkung bei Gesunden nachgewiesen werden konnte (im Gegensatz zur physischen Leistungssteigerung durch Doping im Sport). Und alle potenziell infrage kommenden Substanzen rufen nicht zu vernachlässigende Nebenwirkungen hervor. Welchen Umfang die bewusste, intentionale Anwendung von vermeintlich leistungssteigernden Substanzen durch Menschen im Alltag hat - auch darüber ist wenig bekannt. Auf diese "Defizite" des Gegenstands Enhancement reagieren Vertreter von Philosophie und Ethik häufig durch eine Erörterung hypothetischer Enhancementmittel, diejenigen aus den Sozialwissenschaften durch eine Verortung von "Enhancement" in eine übergeordnete Entwicklung der Medikalisierung.

MITTEL - ZWECKE - KONSEQUENZEN

Die bioethische Debatte über Enhancement konzentriert sich auf drei Schwerpunkte:

Definitions- und Abgrenzungsprobleme sind ein Charakteristikum der bioethischen Enhancementdebatte. Es gibt kein weithin akzeptiertes Verständnis - weder bezüglich der zu betrachtenden Mittel noch der Ziele von Enhancement. Äußerst weiten Definitionen ("all mechanisms which make possible better life") stehen Versuche genauerer Unterscheidungen von Doping, Verbessern und Verändern gegenüber. Für die ethische Bewertung wäre insbesondere die Unterscheidung von Enhancement und Therapie als medizinisch indizierte Maßnahmen wichtig - dies ist aber gerade im Einzelfall oft umstritten und auch theoretisch bzw. konzeptionell kaum leistbar, weil es keine trennscharfe Definition von Krankheit und Gesundheit gibt, sondern eine Pluralität verschiedener Krankheitsbegriffe.

Ein Ausweg, der von vielen Debattenteilnehmern gewählt wird, ist die ethische Prüfung hypothetischer - spezifisch wirksamer, nebenwirkungsarmer - Enhancementmittel, die nicht gleichzeitig auch als Arzneimittel verwendet werden. Die daraus abgeleiteten Einschätzungen können jedoch nicht unmittelbar auf die verfügbaren, wenig spezifisch wirkenden und/oder mit starken Nebenwirkungen verbundenen Psychopharmaka und sonstigen Substanzen angewendet werden.

Ethische Betrachtungen bleiben deshalb regelmäßig abstrakt (wie auch die teils verwendeten Begriffe "spekulative" oder "explorative" Ethik signalisieren). Ein Vergleich z.B. der "Qualität des Glücks", das durch pharmakologisches Enhancement gegenüber traditionellen Formen mentaler Selbstveränderung, wie Konzentrationsübungen, Meditation, psychologisches Coaching, ermöglicht werden könnte, muss ohne empirische Basis rein hypothetisch bleiben. Das Gleiche gilt für eine denkbare, ethisch problematische Beeinträchtigung der Identität und Authentizität durch Enhancementsubstanzen i.e.S., wenn diese die Persönlichkeit der Nutzerinnen und Nutzer stärker oder irreversibel verändern würden.

Die Frage nach der Freiwilligkeit der Nutzung von Enhancementmitteln hingegen kann substanzieller auch ohne Wissen über die spezifischen Wirkungen und Nebenwirkungen von leistungssteigernden Pharmaka diskutiert werden. Das Prinzip der persönlichen Autonomie wird vorrangig mit Blick auf die Abwehr eines heimlichen oder schleichenden Zwangs oder gar einer Pflicht zur pharmakologischen Leistungssteigerung diskutiert. Zu prüfen ist, ob eine zunächst vordergründig individuell und autonom erscheinende Nutzung von Enhancementsubstanzen Wettbewerbsspiralen in Gang setzen kann, bei denen von einer Autonomie der Entscheidungen kaum noch ausgegangen werden kann.

Aus der Perspektive des Gerechtigkeitsprinzips wird teilweise eine Verpflichtung der Gesellschaft zum Angebot und zur Finanzierung von Enhancementmitteln abgeleitet, mit dem Ziel, unfaire Wettbewerbsbedingungen, z.B. bei Prüfungen und in Bewerbungssituationen, zu verhindern, ökonomisch bedingte selektive Zugangsmöglichkeiten oder angeborene Nachteile und Ungleichheiten auszugleichen - auch dieses Szenario trifft auf die bekannten Substanzen mit unklaren Wirkungen und erheblichen Nebenwirkungen nicht zu.

Neben ethischen Betrachtungen der möglichen konkreten individuellen und sozialen Konsequenzen einer Anwendung von biomedizinischen Technologien werden in der Debatte über Enhancement häufig auch grundsätzliche Sorgen um die "Zukunft der menschlichen Natur" geäußert. Diese knüpfen entweder an weitreichende Visionen biotechnischer Manipulationen oder aber an Szenarien einer umfassenden Pharmakologisierung des Alltags an. Während für die Realisierung einer gezielten Umgestaltung des menschlichen Körpers und seiner Fähigkeiten, z.B. mithilfe gentechnischer Eingriffe, auf absehbare Zeit wenig spricht, wird eine Pharmakologisierung als Teil einer Medikalisierung psychosozialer Probleme seit Längerem beobachtet und sozialwissenschaftlich untersucht.

ENHANCEMENT ALS ERSCHEINUNGSFORM DER MEDIKALISIERUNG

Die Ausweitung medizinischer Behandlungsmöglichkeiten als Konsequenz vielfältiger biomedizinischer Forschungs- und Entwicklungsbemühungen hat im 20. Jahrhundert sowohl zu einer enormen Ausdehnung und Ausdifferenzierung des Gesundheitssystems als auch zu einer Diffusion ursprünglich medizinischer Technologien und Sichtweisen in angrenzende Bereiche geführt. Bei dieser "Medikalisierung" können verschiedene Prozesse unterschieden werden: eine Ausweitung medizinischer Diagnostik (Pathologisierung), eine Entgrenzung medizinischer Therapie (Veralltäglichung), eine Entzeitlichung von Krankheit (Prädiktion) sowie die "Verbesserung" der menschlichen Natur (Enhancement). Markante Beispiele für die Ausweitung medizinischer Diagnostik sind die Entwicklung der Diagnose "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung" (ADHS) sowie die Pathologisierung einer nachlassenden Libido oder ausgeprägter Schüchternheit. Charakteristisch für viele dieser Grenzverschiebungen ist eine Gewichtsverlagerung von psychosozialen hin zu somatischen Ursachenerklärungen.

Die wichtigsten Unterschiede zwischen den vier Entgrenzungs- und Medikalisierungsdynamiken betreffen die jeweilige gesellschaftliche Rolle der verschiedenen Akteure (aus Medizin und Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Politik sowie nicht zuletzt die Patienten bzw. neuen Kunden). Die Veralltäglichung medizinischer Eingriffe im Fall der kosmetischen Chirurgie wird beispielsweise erheblich über Ratgeberliteratur, durch die mediale Berichterstattung und die Kunden selbst vorangetrieben - bei einer gewissen Distanz der "klassischen" Ärzteschaft, die ihren Handlungsauftrag in der Heilung von Krankheiten sieht. Im Falle der prädiktiven Gendiagnostik hingegen, als Hauptbeispiel der "Entzeitlichung von Krankheit", ist die treibende Kraft eher die biowissenschaftliche Grundlagenforschung, die immer mehr Erkrankungen mit genetischen Risikofaktoren in Verbindung bringt.

Der Fall ADHS wiederum, der vielen Beobachtern in seiner historischen Entwicklung als paradigmatischer Fall der Medikalisierung von abweichendem sozialem Verhalten gilt, das mit Schwierigkeiten bei der kognitiven Leistungserbringung einhergehen kann, ist durch ganz andere Konstellationen gekennzeichnet. Die Antwort auf die Frage, welches Verhalten "noch gesund" und welches "schon krankhaft" ist, kann nur zum Teil mithilfe biologisch-medizinischer Messverfahren beantwortet werden. Darüber hinaus basiert die Diagnose auch auf der Bewertung des Umfelds und der Selbsteinschätzung. Gerade bei erwachsenen Menschen mit der Diagnose ADHS wird das Krankheitsbild anscheinend auch als "Chance" be- und ergriffen: Sie verschafft den Zugang zu Arzneimitteln, die laut Selbstauskunft zumindest von manchen Anwendern als gezielt und kontrolliert wahrnehmbare Option der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung eingeordnet und erfahren werden. Damit ist dies eines der wenigen Beispiele für ein vermutlich wirksames Enhancement, allerdings in einem nicht leicht zu bestimmenden Grenzbereich zur "klassischen" Therapie.

Besonders facettenreich erscheint der Bereich des "Anti-Aging", der als Mischform von Pathologisierung und Veralltäglichung den wohl bedeutendsten und vielfältigsten Bereich der Medikalisierung darstellt: So werden sinkende Hormonspiegel als medizinische Indikation für konkrete "therapeutische" Maßnahmen herangezogen, gleichzeitig wird eine Vielzahl von Substanzen mit völlig unklaren und unbelegten Wirkungen vertrieben. Bei einem befürchteten kontinuierlichen Nachlassen der Leistungsfähigkeit sind die Erwartungen der betroffenen älteren Menschen an den Effekt von Anti-Aging-Maßnahmen in vielen Fällen vermutlich niedriger und gleichzeitig möglicherweise Placeboeffekte ausgeprägter als beim Griff zu vermeintlich leistungssteigernden Mitteln durch Jüngere. Häufig dürfte es genügen, dass die Betroffenen annehmen, ohne die Mittel wäre ihr Leistungsabfall noch deutlicher ausgefallen. Es erscheint daher plausibel, dass sich in diesem Bereich fragwürdige "Neuroenhancementmittel" am Leichtesten ausbreiten können. /p>

LEISTUNGSSTEIGERNDE MITTEL DER ZUKUNFT - EIN ERWEITERUNGSSZENARIO

Anknüpfend an die Ausgangsannahme der ethischen Debatte, dass es zukünftig Substanzen geben könnte, die bei Gesunden spezifisch leistungssteigernd wirken und gleichzeitig nebenwirkungsarm sind, wird im TAB-Bericht in Form eines Erweiterungsszenarios der Frage nachgegangen, wie diese Substanzen vom medizinisch-pharmakologischen Innovationssystem hervorgebracht werden können. Grundsätzlich erscheint es zwar unwahrscheinlich, dass Stoffe starke, spezifische Effekte auf relevante psychische Fähigkeiten ausüben können, ohne gleichzeitig andere physische oder psychische Prozesse negativ zu beeinflussen, doch bleibt dies letztlich nur eine - wenn auch wissenschaftlich plausible - Annahme und keine Gewissheit.

LEISTUNGSSTEIGERNDE PHARMAKA IM DERZEITIGEN FORSCHUNGS- UND INNOVATIONSSYSTEM

Das (bisherige) Angebot an vermeintlich leistungssteigernden Substanzen resultiert aus den Entdeckungen des biologisch-medizinischen Forschungssystems und der Entwicklungstätigkeit wissenschaftlicher Einrichtungen, sowohl aus öffentlichen (z.B. Universitäten) als auch privatwirtschaftlichen (z.B. Arzneimittelhersteller) mit ihren wechselseitigen Verschränkungen. National wie international gibt es derzeit einen Trend zu einem Stufenmodell der medizinisch-pharmakologischen Forschung mit

Diese FuE-Akteure richten ihre Tätigkeiten maßgeblich an den Vorgaben der Forschungsförderer (vor allem im nichtkommerziellen Bereich) sowie den vermuteten Absatzchancen und Marktpotenzialen möglicher Produkte und deshalb an den Kriterien der Marktzulassung aus (vor allem im kommerziellen Bereich), für deren Einhaltung die Zulassungs- und Kontrollbehörden national und international eine zentrale Rolle spielen. Neben diesen legalen Strukturen existieren auch illegale, aus denen heraus ebenfalls vermeintlich leistungssteigernde Substanzen in den Verkehr gebracht werden können.

Im Bereich der Grundlagenforschung ist die Beschäftigung mit der Thematik kognitive Leistung oder emotionale Verfasstheit sowie der Möglichkeiten, diese zu beeinflussen, bereits heute ein wissenschaftlich interessantes und potenziell lohnendes Thema. Anwendungsorientiertere Ansätze - z.B. eine gezielte Analyse leistungssteigernder Effekte von pharmakologischen Substanzen bei Gesunden oder gar eine unmittelbare Wirkstoffentwicklung - sind kaum bekannt, und mögliche Kooperationen mit der pharmazeutischen Industrie dürften für öffentliche Forschungseinrichtungen erst bei einer arzneimittelrechtlich erleichterten Zulassung von Neuroenhancern tatsächlich attraktiv werden.

Es ist offensichtlich, dass pharmakologische Substanzen, denen ein Potenzial zur Leistungssteigerung unterstellt wird, bisher kaum gezielt gesucht und entdeckt wurden. Vielmehr waren sie meist seit Jahren zur Behandlung unterschiedlicher Krankheitssymptome zugelassen, bevor ihre (vermeintlich) leistungssteigernde Wirkung bei Gesunden in der Anwendung eher zufällig zutage trat. Es erscheint auch für die Zukunft plausibel, dass der Verbreitungspfad der "zufälligen Anwendungserweiterung" wahrscheinlicher ist als Ergebnisse aus gezielter medizinischer (Grundlagen-)Forschung und Entwicklung - zumindest solange die derzeitigen medizinethischen Handlungsnormen sich nicht ändern und die klinischen Prüfungs- und Zulassungsverfahren ebenfalls bestehen bleiben, die eine gezielte Suche nach leistungssteigernden Effekten von pharmakologischen Substanzen bei Gesunden bislang stark begrenzt haben.

Allerdings sind bereits heute FuE-Aktivitäten in den Grenzbereichen des medizinethisch und -rechtlich Zulässigen zu beobachten (Untersuchungen des Militärs zur leistungssteigernden Wirkung verfügbarer Pharmaka, Pharmaforschung zum Erhalt der Leistungsfähigkeit im Alter). Darüber hinaus könnte eine gezielte Erforschung und Entwicklung von leistungssteigernden Pharmaka auch in Ländern erfolgen, die andere Regulierungsstandards aufweisen und über große wissenschaftliche Kapazitäten verfügen (wie China, Indien, Brasilien). Entsprechende Substanzen könnten in diesen Ländern zugelassen und von dort aus international verbreitet werden.

ELEMENTE UND IMPLIKATIONEN EINES ERWEITERUNGSSZENARIOS

In dem Erweiterungsszenario des TAB-Berichts wird untersucht, was nötig wäre, um die bisherige Logik und die Prozeduren der wichtigsten Arzneimittelmärkte mit der Erforschung und Entwicklung von pharmazeutischen Wirkstoffen und Arzneimitteln zur "Leistungssteigerung bei Gesunden" kompatibel zu machen. Dieser Frage und der nach den möglichen Folgen für das Gesundheits- und Innovationssystem ist bislang noch niemand tiefer nachgegangen.

Die bisherigen rechtlichen Voraussetzungen stehen einer Zulassung von Arzneimitteln zur Leistungssteigerung Gesunder (im Folgenden "HLP" für hypothetische leistungssteigernde Pharmaka) entgegen. Ein Marktzugang über eine Erweiterung von Lebensmittelkategorien erscheint wenig wahrscheinlich, weil HLP (per Definition) biologische Wirkungen entfalten, die über die aus lebensmittelrechtlicher Sicht zulässigen Wirkungen hinausgehen. Der Arzneimittelbegriff hingegen erfasst alle Stoffe, die der Beeinflussung physiologischer Funktionen dienen - auch ohne Krankheitsbezug. Da Letzterer jedoch eine notwendige Voraussetzung für die Marktzulassung bildet, müsste das Zulassungsverfahren angepasst werden.

Insgesamt müsste ein Wechselspiel zwischen wissenschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen entstehen, damit eine relevante Beschleunigung der FuE-Dynamik bei leistungssteigernden Pharmaka einsetzen kann. Normatives Fundament einer rechtlichen Ermöglichung müsste die Anerkennung der Leistungssteigerung bei Gesunden als Nutzendimension für pharmakologische FuE einerseits im Rahmen der Arzneimittelzulassung und andererseits im Rahmen der derzeitigen medizinethischen Beurteilungsverfahren sein.

Auch wenn eine Leistungssteigerung bei Gesunden in Zukunft als individuell und/oder gesellschaftlich nützlich bewertet würde, dürften die Anforderungen an die Sicherheitsprüfung und die gesamte Nutzen-Risiko-Bewertung von HLP strenger als für die Zulassung zur therapeutischen Verwendung sein. Eine Zulassungsvoraussetzung wäre vermutlich der Ausschluss schwerwiegender Nebenwirkungen, wahrscheinlich würden seltene und langfristige, vermutlich auch indirekte Neben- bzw. Folgewirkungen psychosozialer Art größere Beachtung finden. Da diese zwangsläufig besonders schwer zu erfassen sind, wäre ein grundsätzlicher sowie langwieriger wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Disput über den Umgang mit diesen Risiken wahrscheinlich.

Allein zur Erfassung der Folgeschäden läge nach der Marktzulassung der Zugang zu den Substanzen über ein Gatekeepermodell nahe, d.h. Abgabe von HLP nur durch legitimierte Personen mit Informations- und Dokumentationspflichten sowie der Möglichkeit der Rückmeldung der Anwender an diese Personen. Eine Beschränkung der Gatekeeper auf ausgebildete Ärzte erschiene realistisch. In den Berufsordnungen der Ärzte müsste dann der Begriff des ärztlichen Handlungsraums grundsätzlich überdacht und vermutlich erweitert werden.

RISIKOABSCHÄTZUNG UND WIRKUNGSNACHWEIS

Verglichen mit der Entwicklung von therapeutischen Pharmaka ergeben sich neue Herausforderungen und Schwierigkeiten bei HLP sowohl beim Wirkungsnachweis als auch bei der Risikoabschätzung - als Grundlage für eine belastbare Nutzen-Risiko-Bewertung im Rahmen der Marktzulassung.

Bei therapeutischen Studien gilt die Frage nach dem gesellschaftlichen Wert regelmäßig als positiv beschieden. Auch nichttherapeutische Forschung an Menschen wird im Allgemeinen dadurch gerechtfertigt, dass sie der Weiterentwicklung der Medizin dient und damit künftig auch therapeutischen Nutzen hervorbringen kann. Inwiefern das Ziel einer Leistungssteigerung bei Gesunden diese Legitimation liefern kann, müsste neu begründet werden.

Klinische Studien der Phase I würden sich bei HLP wohl nur wenig von denjenigen für Arzneimittel zu therapeutischen Zwecken unterscheiden. Allerdings könnten bei HLP, anders als bei potenziellen Therapeutika, schon erste Wirksamkeitsaspekte in Phase I mit untersucht werden. Der eigentliche Wirksamkeitsbeleg für einen therapeutischen Einsatz von Arzneimitteln wird gegenwärtig in den Phasen II und III erbracht. Bei HLP wäre der Wirksamkeitsbegriff ein anderer - dementsprechend müsste der Wirksamkeitsnachweis auf andere Weise erbracht werden. Ähnlich wie die Anforderungen an die Sicherheit dürften auch die an den Wirksamkeitsnachweis bei HLP größer als bei einer therapeutischen Verwendung sein.

NEUE ANFORDERUNGEN AN DAS GESUNDHEITSSYSTEM

Bei HLP könnten aufgrund ihrer Wirkungsweise auf zentrale Funktionen des Gehirns unerwünschte psychosoziale Folgen (z.B. auf Leistungsfähigkeit, Leistungsprofil und personale Identität) nicht ausgeschlossen werden. Deshalb müssten diese bereits im Rahmen der klinischen Prüfung besonders intensiv untersucht werden - die sich damit zu einer klinisch-sozialen Prüfung entwickeln würde. Hierzu müssten teils völlig neue Beurteilungsmaßstäbe und -verfahren entwickelt werden, viele Parameter dürften nur sehr begrenzt vorab testbar sein. Daher käme einem systematischen Langzeitmonitoring eine entscheidende Rolle zu, wobei neben möglichen individuellen auch gesellschaftliche Folgedimensionen in den Blick zu nehmen wären. Von wem und wie dies zu bewerkstelligen wäre, ist völlig unklar. Unzweifelhaft erscheint, dass an die Information der Anwender leistungssteigernder Pharmaka hohe Anforderungen gestellt würden. Besondere Kennzeichnungsvorschriften wären zu diskutieren, mögliche Abgrenzungsprobleme zur Kennzeichnungspflicht von Dopingsubstanzen wären zu erwarten.

Bei HLP wäre grundsätzlich damit zu rechnen, dass ein Teil der Anwender problematische Konsummuster entwickelt. Bei individuellen gesundheitlichen Schäden würden vermutlich ähnliche Verfahren der Behandlung - und ihrer Erstattung - zum Tragen kommen wie bei sonstigen Substanzen bisher. Ein auftretender Missbrauch könnte jederzeit zu einer Neubewertung der Nutzen-Risiko-Abwägung führen und in einen Entzug der Zulassung münden.

RÜCKWIRKUNGEN AUF DAS INNOVATIONSSYSTEM

Als längerfristige Konsequenzen einer wachsenden Dynamik der Entwicklung und Diffusion von HLP erscheinen verschiedene Änderungen im Forschungs- und Innovationssystem plausibel:

DOPING UND ENHANCEMENT: GEMEINSAMKEITEN UND UNTERSCHIEDE ZWISCHEN SPORT UND BERUFSLEBEN

Die Parallelen der Handlungen bei (Neuro-)Enhancement und Doping im Sport sind kaum zu übersehen: Menschen nehmen pharmakologische Substanzen ein, um ihre Leistung zu steigern. Es liegt daher nahe, Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Befassung mit der Dopingproblematik im Leistungs- und Breitensport zu den möglichen Implikationen einer gezielten und weitverbreiteten Nutzung leistungssteigernder Substanzen hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf die Situation in Alltag und Berufsleben systematisch auszuwerten.

RECHTFERTIGUNGS- UND VERHALTENSMUSTER

Der Diskurs zum Doping als pharmakologische Leistungssteigerung bietet vor allem bei der Frage der ethischen Vertretbarkeit - Recht auf Selbstbestimmung und Selbstschädigung, Chancengleichheit und Gerechtigkeit - viele Parallelen zur Enhancementdebatte und kann als deren Vorläufer verstanden werden. Ein Unterschied besteht darin, dass beim Doping nur eine Minderheit die explizite Freigabe fordert, während beim Enhancement von vielen Debattenteilnehmern gegen ein Verbot der Nutzung möglicher Substanzen argumentiert wird. In bioethischen Analysen zu Enhancement wird daher häufig die Folgerung abgeleitet, dass in einer rationalen und liberalen Gesellschaft auch Doping im Sport nicht verboten sein sollte. In beiden Diskursen wird dabei der Nutzen nur vage benannt - die Risiken werden verharmlost oder in der autonomen Verantwortung der Anwender verortet. Diese Betonung der individuellen Handlungsperspektive unter Ausblendung systembedingter Zusammenhänge sowie überindividueller pathologischer Auffälligkeiten des "abweichenden Verhaltens" stellt eine offensichtliche Parallele von Doping- und Enhancementdiskurs dar.

Für das Verständnis von Enhancement sind zwei immanente Dynamiken des Dopinggeschehens im Leistungssport besonders aufschlussreich: das "Quantitätsgesetz des Dopings" und der "Drop-out" von Dopingunwilligen. Ersteres wurde aus der Beobachtung abgeleitet, dass selbst wenn es im niedrigen, "therapeutischen" Dosierungsbereich so etwas wie ein gesundheitlich unschädliches Doping geben könnte, Sportler im Verlauf ihrer Karriere fast zwangsläufig in den "nichttherapeutischen", zunehmend gesundheitsschädlichen und gleichzeitig immer weniger Leistungszugewinn versprechenden Dosierungsbereich hineingelangen. Das "Drop-out" als der vorzeitige Ausstieg aus dem System Leistungssport sowohl von Sportlern als auch von Betreuern und Funktionären, welche die pharmakologische Leistungssteigerung nicht mitmachen wollen, gilt als eine in der öffentlichen Wahrnehmung wenig beachtete systemische Konsequenz der Ausbreitung von Dopinghandlungen. Hierdurch verliert der Sport besonders kritische, selbstbewusste und konsequente Akteure. Darüber hinaus findet zu einem späteren Zeitpunkt eine "Ausmusterung" von Athleten statt, welche die dopingbasierten Anforderungen nicht erfüllen. Zusammengenommen spricht all dies dagegen, dass eine "gemäßigte, kontrollierte" Form der menschlichen pharmakologischen "Optimierung" realistisch und aussichtsreich ist.

Insgesamt repräsentiert Doping im Sport ein zwar prinzipiell nicht regelkonformes, aber dennoch angepasstes Verhalten, das in einigen Sportarten eher die Norm als die Ausnahme darstellen dürfte. Entscheidend für die individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz von Doping ist eine auf das Ergebnis reduzierte Leistungsdefinition. In der Berufswelt erscheint die positive Bewertung von Leistung, gleich unter welchen Bedingungen sie erbracht wurde, eigentlich noch viel uneingeschränkter positiv, weil in der Regel mit "Doping am Arbeitsplatz" nicht - wie im Sport - Konkurrenten durch pharmakologische Manipulation aus dem Feld geschlagen, sondern Betriebsziele erreicht werden. Die positive Konnotation von Leistung(ssteigerung) führt vermutlich auch dazu, dass die Frage, ob die pharmakologische Intervention überhaupt konkret leistungssteigernd ist, oft gar nicht substanziell diskutiert wird.

Die Sportsoziologie hat gezeigt, wie irreführend es ist, Dopinghandlungen lediglich als individuell zu verantwortendes Fehlverhalten zu interpretieren. Vielmehr stellt Doping immer eine durch die Werte und Normen des soziokulturellen Bezugssystems geprägte Handlung dar. Die Abweichung von den explizit erlaubten Maßnahmen erfolgt dann, wenn die legitimen Mittel nicht mehr ausreichen, um die Systemanforderungen zu erfüllen. Regelverstöße können von Abweichlern dann als Ausdruck von Konformität und Integrationsbereitschaft rationalisiert werden. Zusätzlich erleichtert wird abweichendes Verhalten dann, wenn entgegen der offiziellen Norm des Dopingverbots gleichzeitig informelle Normen Doping gutheißen und es als Therapie, Konstitutionsförderung oder Nachteilvermeidung neu codieren.

Beim Neuroenhancement wäre ebenfalls von einem abweichenden, "innovativen" Verhalten zu sprechen, als Versuch von Einzelpersonen, sich an überfordernde Sozialstrukturen anzupassen. Je unsicherer die persönliche Leistungserbringung erscheint und je größer etwa die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren oder wichtige Ausbildungsziele nicht zu erreichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen darauf mit dem Griff zu Arzneimitteln reagieren, wenn diese eine Hilfestellung versprechen.

Wenig überzeugend ist die Argumentation, dass bei einer freien Verfügbarkeit von Enhancementpräparaten jeder selbst entscheiden könne, ob er davon Gebrauch machen möchte oder nicht. Der strukturelle Druck würde damit nicht nachlassen, sondern eher zunehmen, denn es steht nicht zu erwarten, dass die Leistungsanforderungen nicht weiter steigen. Gleichzeitig erscheint die Bereitschaft zur Einnahme von Arzneimitteln oder Substanzen zur Leistungssteigerung als Zeichen fehlender Selbstwirksamkeitserwartung. Es ist wenig plausibel, dass Menschen mit hoher geistiger Leistungsfähigkeit eine pharmakologische Leistungssteigerung als Zuwachs an Souveränität und Autonomie erleben. Die Untersuchungen zum Substanzgebrauch bei Studenten und Schülern sprechen dafür, dass es - ähnlich wie beim Doping im Sport - nicht vorrangig die talentiertesten, sondern eher die "in der zweiten Reihe" stehenden, hohem Erwartungsdruck ausgesetzten Menschen sind, die mithilfe verschreibungspflichtiger Arzneimittel versuchen, ihre Ausbildungs- und Wettbewerbsziele zu erreichen.

PATHOLOGISCHE ASPEKTE DER HOCHLEISTUNG UND PRÄVENTIONSFRAGEN

Viele Menschen nehmen Dopingmittel ein, obwohl sie keine Leistungssportler sind (in Deutschland geschätzt ca. 1 Mio.). Dies spricht für eine zunehmend zumindest problematische, wenn nicht gar krankhafte Ausformung der gesellschaftlichen Leistungsorientierung. Beruflich besonders leistungsorientierte Menschen versuchen besonders hartnäckig, so weit wie möglich Kontrolle über den eigenen Körper auszuüben. Das wenig diskutierte Phänomen der Sportsucht kann genauso wie zunehmende Fälle von Essstörungen als Teil weitverbreiteter Körperwahrnehmungs- und -umgangsstörungen verstanden werden.

Über die Bedingungsfaktoren herrscht allerdings keine Klarheit, z.B. zu den Wechselwirkungen zwischen Leistungsorientierung, Substanzgebrauch und Suchtproblematik. Französische Suchtexperten haben bei (Hoch-)Leistungssportlern eine deutlich höhere Anfälligkeit für Drogensucht gefunden als bei Nicht- oder Gelegenheitssportlern. Ob dies primär auf die bereits vorher vorhandene Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen zurückzuführen ist und welchen Anteil der Substanzgebrauch und die Systemstruktur des Leistungssports haben, sind Untersuchungsfragen mit Relevanz auch für die Enhancementdebatte. Zu prüfen wäre, inwieweit geistige Arbeit ähnliche negative Folgen zeitigen kann, wie dies bei der körperlichen Hyperaktivität anscheinend festzustellen ist. Spezifisch wäre zu fragen, ob der Konsum von Neuroenhancementpräparaten oder andere Formen von Arzneimittelmissbrauch hierfür ein zusätzliches Risiko darstellen oder nicht.

Das soziale Umfeld übt großen - mäßigenden oder verstärkenden - Einfluss auf Sucht- und Abhängigkeitsverhalten der Sportler aus. Nicht Substanzen oder Verhaltensweisen alleine erzeugen Sucht, sondern der Umgang einer bestimmten Persönlichkeit mit Substanzen in einem soziokulturellen Umfeld. Mit Blick auf einen Arzneimittelmissbrauch jenseits des Sports ist es wenig zweifelhaft, dass verhaltensbezogene Präventionsansätze nicht im Bereich von Verbot und Strafe, sondern eher im Bereich einer allgemeinen Gesundheitserziehung anzusiedeln wären. Insbesondere bei Jugendlichen haben sich Präventionsbemühungen in Form von bloßen Warnungen vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen wenig bewährt. Vielmehr geht es um die Förderung von Schutzfaktoren und Kompetenzen, wobei die biografischen Bedingungen und sozialen Umgebungen von Kindern und Jugendlichen (Elternhaus, Schulen) in Präventionsmaßnahmen einzubeziehen wären. Gleichzeitig sollten die für unerwünschtes Verhalten maßgeblichen Gelegenheitsstrukturen (z.B. des Zugangs zu Arzneimitteln) so gestaltet werden, dass dieses nicht befördert wird (Verhältnisprävention).

BEDEUTUNG FÜR DAS BERUFSLEBEN

Die Anwendung von Enhancementpräparaten in der Arbeitswelt wird teilweise als seriöse Antwort auf die Zunahme von psychischen Anforderungen im Berufsleben dargestellt. Sie erscheint als Maßnahme, schwer zu bewältigende Komplexität zu reduzieren und Überforderungssituationen handhabbar werden zu lassen. In kurzfristiger Perspektive mögen solche Nutzenerwartungen noch plausibel erscheinen. Langfristig, dies legt die historische Entwicklung des Dopinggeschehens nahe, erscheint das Konzept der pharmakologischen Manipulation von Menschen jedoch wenig erfolgversprechend.

Die im Fall des Dopings erkennbaren Zwänge scheinen auch in der Arbeitswelt, gerade bei den Hochqualifizierten, immer mehr Platz zu greifen. Dabei gefährden wachsende Belastungen nicht nur die Gesundheit der Betroffenen, sondern auf Dauer auch die erfolgreiche Weiterentwicklung der Betriebe insgesamt. Entsprechend dem aus der Sportwissenschaft bekannten "Quantitätsgesetz des Trainings" werden für immer kleinere Leistungsverbesserungen immer größere Anstrengungen erforderlich. Das Betreten weiterer Eskalationsstufen, ob durch Doping, Arzneimittelmissbrauch und zukünftig eventuell durch wirkungsvolles Neuroenhancement, macht diesen Prozess weder rückgängig noch erträglicher. Es muss daher auch im Sinn der Unternehmen sein, die Entwicklungen einer um sich greifenden pharmakologischen Unterstützung zu beobachten und gegebenenfalls gegenzusteuern.

Sollte die von mehreren Hirnforschern und Psychopharmakologen vertretene Ansicht zutreffen, dass ein von Natur und Umgebung sehr gut ausgebildetes Gehirn durch pharmakologische Beeinflussung in seiner Leistungsfähigkeit eigentlich nur beeinträchtigt werden kann, weil es praktisch bereits am Optimum arbeitet - dann ergäben sich gerade für die besonders "anfälligen" Hochleistungsberufstätigen nur Nachteile durch Enhancement. Das Gefühl der Überforderung würde vermutlich nicht abgeschwächt, sondern vielmehr noch verstärkt: weil die Betroffenen sich überhaupt genötigt fühlen, diese Mittel zu nehmen, und dann feststellen, dass sie ihnen auf Dauer nichts nützen.

HANDLUNGSFELDER

Aus den Ergebnissen des TAB-Berichts ergeben sich Handlungsmöglichkeiten in den Bereichen Forschung, Regulierung, Verbraucherschutz und Prävention sowie öffentliche Debatte.

FORSCHUNG

Forschungsbedarf ergibt sich vor allem mit Blick auf die verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungsformen bewusster Pharmakanutzung zur Leistungserbringung. Vorliegende empirische Analysen bieten eine Ausgangsbasis, die durch Untersuchungen insbesondere zu folgenden Fragen zu verbreitern wäre:

Sinnvoll erscheint es, die derzeit vorhandene Wissensbasis über beobachtete und denkbare Effekte - in den Grenzen der gültigen forschungs- und medizinethischen Vorgaben - noch gründlicher als bislang auszuwerten. Da Forschung und Entwicklung im Pharmamarkt ausgesprochen global ausgerichtet sind und leistungssteigernde Pharmaka durchaus zunächst im außereuropäischen Raum Fuß fassen könnten, ist ein periodisches Monitoring der internationalen Entwicklungen in diesem Bereich angezeigt.

REGULIERUNG

Dringender Regelungs- bzw. rechtlicher Anpassungsbedarf zum Tatbestand "Pharmakologisches (Neuro-)Enhancement" ist nicht erkennbar. Alle bislang als vermeintliche Enhancer bekannten Substanzen fallen unter das Arznei-, das Betäubungs- oder das Lebensmittelrecht. Die Frage eines Substanz- oder Konsumverbots stellt sich daher derzeit nicht.

Allerdings kann ein gewisser Klärungsbedarf mit Blick auf das im Arzneimittelgesetz (AMG) verankerte Dopingverbot begründet werden, welches zum Schutz der Gesundheit (§ 6 AMG) das Inverkehrbringen und Verschreiben sowie die Anwendung von Arzneimitteln bei anderen zu Dopingzwecken ausschließlich im Sport verbietet (§ 6a AMG). Sollte sich im Zuge der detaillierteren empirischen Erhebungen herausstellen, dass der Missbrauch von Arzneimitteln zur psychischen/kognitiven Leistungssteigerung ein ähnlich großes Problem wie das zur physischen Leistungssteigerung darstellt, dann läge es nahe, eine Gleichstellung beider Vorgänge im Arzneimittelgesetz zu prüfen.

Eine regulative Unschärfe besteht darüber hinaus bei der therapeutischen Nutzendefinition als Legitimation klinischer Forschung und späterer Zulassung von Arzneimitteln. Substanzen können gegebenenfalls zugelassen, aber aus dem Leistungskatalog insbesondere der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen werden. Als Konsequenz wird vermutlich eine wachsende Zahl von Substanzen vorwiegend auf dem zweiten Gesundheitsmarkt umgesetzt, dessen Erfassungs- und Kontrollmechanismen weniger strikt als die des ersten sind. Mit Blick auf mögliche Enhancementtendenzen wäre eine systematische, transparente und detaillierte Erhebung der Verschreibungen und Umsätze notwendig. Auch müsste die unabhängige Nutzen-Risiko-Bewertung gestärkt und eine seriöse, leicht zugängliche und verständliche Information der Patienten bzw. Klienten bei individuellen Gesundheitsleistungen oder Off-Label-Verschreibungen sichergestellt werden. Die in ihrem Umfang nicht genau bekannte, intransparente heutige Praxis gezielter Off-Label- oder Gefälligkeitsverschreibungen in den Grenzbereichen zur Leistungssteigerung durch Ärzte erfordert eine gesamtgesellschaftliche und berufsständische Auseinandersetzung mit der Thematik.

Im Bereich des Lebensmittelrechts wäre eine Beobachtung der Zielerreichungseffekte der Umsetzung der Health-Claims-Verordnung und ggf. eine Überprüfung der Auflagen speziell im Bereich der Leistungssteigerungsbewerbung wichtig, um diesbezüglich wunscherzeugende oder -verstärkende Praktiken zu begrenzen.

GESUNDHEITLICHER VERBRAUCHERSCHUTZ UND PRÄVENTION

Viele Gründe sprechen dagegen, dass die Verwendung pharmakologischer Substanzen eine adäquate, gesellschaftlich wünschenswerte Handlungsoption für den Umgang mit besonders fordernden oder auch überfordernden Leistungserwartungen bzw. -vorgaben ist. Die Beobachtung, dass diese Handlungsoption trotz möglicher vielfältiger, nicht unerheblicher Nebenwirkungen praxisrelevant ist, spricht für die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Stärkung von gesundheitsbewussten individuellen Lebensweisen unter anderem durch die Bereitstellung und Vermittlung von verlässlichen Informationen sowie durch die Gestaltung gesundheitsfördernder Umfeldbedingungen im Sinn der Ottawa-Charta der WHO.

Eine notwendige Voraussetzung hierzu wäre, ein Gegengewicht zu interessengeleiteten Werbeaussagen und unübersichtlichen Internetinformationen zu schaffen und Verbraucher verständlich, umfassend und vertrauenswürdig über Wirkungs-, Nichtwirkungs- und Nebenwirkungsaussagen sowohl von Lebensmitteln als auch von Arzneimitteln zu informieren. Bei der Gestaltung gesundheitsfördernder Umfeldbedingungen in Ausbildung und Beruf muss unterschieden werden zwischen der allgemeinen Frage nach der Ausgestaltung und Durchsetzung von Leistungsanforderungen - die eine gesamtgesellschaftliche Grundsatzfrage darstellt (s.u.) - und konkreten Maßnahmen der Gesundheitsförderung in Arbeits- und Ausbildungsumgebungen. Während die betriebliche Gesundheitsförderung einschließlich der humanen Gestaltung der Arbeit vor allem im Verantwortungsbereich des Arbeitgebers liegt, ist die Situation bei Selbst- und Scheinselbstständigen, bei von Arbeitslosigkeit Betroffenen und auch bei Schülern und Studenten diffuser bzw. völlig anders. Besonderes Augenmerk sollte auf die zunehmenden psychischen Belastungen (durch wachsenden Zeitdruck und schnell wechselnde Aufgaben) gelegt werden, die anscheinend bei allen Bevölkerungsgruppen zu vermehrten Erkrankungen führen.

GESELLSCHAFTLICHE UND POLITISCHE DEBATTE

Die vorrangige gesellschaftliche und politische Relevanz von Enhancement erschließt sich nicht aus dessen Verständnis als Teil einer wissenschaftlich-technisch fundierten "Verbesserung des Menschen", sondern daraus, dass pharmakologische Interventionen zur Leistungssteigerung Teil einer "Medikalisierung der Leistungs(steigerungs)gesellschaft" sind. Gegenstand der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung müsste also der zukünftige Stellenwert pharmakologischer und sonstiger (bio)medizinischer Strategien und Maßnahmen beim Umgang mit Leistungsvorgaben und -anforderungen in der globalisierten Ausbildungs- und Arbeitswelt sowie mit den Folgen des demografischen Wandels sein. Dazu wären die Schul-, Studien- und Arbeitsbedingungen zu hinterfragen und gegebenenfalls die Leistungskennziffern anzupassen, anstatt von vornherein Strategien maximaler individueller und kollektiver Leistungssteigerung als unausweichlich anzusehen. Hierfür sprechen zumindest mittel- und längerfristig auch betriebs- und volkswirtschaftliche Gründe. Das Beispiel des Dopings im Sport bietet hierbei Anschauungsmaterial zu einer möglichen Selbstzerstörung eines Wettbewerbssystems durch unbegrenzte Leistungssteigerungserwartung.

Ein gewichtiges Argument für ein pharmakologisches Enhancement, das in vielen bioethischen Einlassungen angeführt wird, wäre ein besonderer Nutzen für weniger leistungsstarke Menschen insbesondere im Beruf und dadurch die Herbeiführung größerer Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Die Analyse der Wirkungen der bisher verfügbaren Substanzen deutet darauf hin, dass Personen in "defizitären" Ausgangssituationen eher profitieren könnten. Wenn sich diese These erhärten sollte, verstärkt sich die schwierige Frage der Grenzziehung aufgrund der fortschreitenden Pathologisierung normaler Zustände, der sich immer auch die sozialen Sicherungssysteme stellen müssen. Gleichzeitig sprechen die bisherigen Befragungen dafür, dass am ehesten solche Personen leistungssteigernde Substanzen verwenden, die sehr gut ausgebildet sind und über eine hohe Leistungsbereitschaft verfügen - und sich dennoch überfordert fühlen. Insgesamt erscheint es wenig überzeugend, dass ein berufliches Enhancement als autonome Handlung mit positiven Folgen erlebt würde.

Wenn sich in ferner Zukunft stärkere Hinweise als bislang auf spezifische, leistungssteigernde Wirkungen ohne relevante unerwünschte Nebenwirkungen ergeben, dürften Stimmen laut werden, die eine systematischere Erforschung von Enhancementmitteln fordern. Bei der Frage nach der öffentlichen Forschungsförderung müsste angesichts des damit zu vollziehenden Paradigmenwechsels in der medizinischen Forschung spätestens dann ein gesellschaftlicher Meinungsbildungsprozess initiiert werden, ob dies wirklich eine gewünschte Verwendung von öffentlichen Ressourcen darstellt.

Die Ergebnisse des vorliegenden Berichts sprechen allerdings nicht dafür, dass leistungssteigernde Substanzen die öffentliche Wohlfahrt, das soziale Gefüge oder das individuelle Glück auf längere Sicht positiv beeinflussen können.

 

Erstellt am: 04.11.2011 - Kommentare an: webmaster