Christoph Revermann, Bärbel Hüsing

Fortpflanzungsmedizin.
Rahmenbedingungen, wissenschaftlich-technische Fortschritte und Folgen

Berlin: edition sigma 2011, Reihe: Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung, Bd. 32, ISBN 978383608132-0, 278 Seiten, kartoniert, 24.90 Euro
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EINLEITUNG

Titelbild

Zwar verläuft die menschliche Reproduktion nicht immer "nach Plan", aber i.d.R. gehören Kinder und Familie bei den meisten (jüngeren) Erwachsenen zur Lebensplanung. Und bis zum Zeitpunkt der Feststellung einer Fruchtbarkeitsstörung oder gar der Diagnose vollständiger Infertilität bzw. Sterilität gehen viele Menschen wie selbstverständlich davon aus, dass sie ein Kind zeugen, schwanger werden und Elternschaft leben können (Erdle 2008). Im Vorfeld haben sich die meisten nicht mit ungewollter Kinderlosigkeit auseinandergesetzt, dies geschieht in aller Regel erst beim Auftreten von Problemen. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose eine Krise aus, die zu den schwersten gehört, denen Paare in ihrem Leben ausgesetzt sein können. Die Lebens-qualität kann im Hinblick auf die psychische und physische Gesundheit, die emotiona-le Vitalität und geistige Leistungsfähigkeit sowie auf die Teilnahme am sozialen Leben stark eingeschränkt sein. Der Leidensdruck steigt in der Regel mit zunehmender Dauer des unerfüllten Kinderwunsches. Die Bewältigung der Krise hängt nicht zuletzt davon ab, auf welche Rahmenbedingungen Frauen und Männer während der Diagnosestel-lung und der möglicherweise daraus resultierenden Kinderwunschbehandlung mithilfe reproduktionsmedizinischer bzw. -technologischer Verfahren treffen.

Die Reproduktionsmedizin (Fortpflanzungsmedizin) stellt medizinisch-technische Op-tionen für den Umgang mit unerfülltem Kinderwunsch bereit. Zur Reproduktionsmedizin - auch ART (assistierte Reproduktionstechnologie; "assisted reproductive tech-niques") - gehören alle Behandlungen und Verfahren, die den Umgang mit menschlichen Eizellen, Spermien oder Embryonen mit dem Ziel umfassen, eine Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes herbeizuführen. Im internationalen Vergleich zei-gen sich große Unterschiede, inwieweit, mit welchen Zielsetzungen und unter welchen Rahmenbedingungen Verfahren der technisch assistierten Reproduktion überhaupt erlaubt sind, in welchem Maße sie in der medizinischen Praxis eingesetzt werden und welche intendierten und nichtintendierten Folgen hiermit jeweils verbunden sind. Die Bedingungen in Deutschland sind vergleichsweise als eher restriktiv einzuschätzen; einschlägig sind vor allem Bestimmungen im Embryonenschutzgesetz. Thematisiert werden in Deutschland mittlerweile u.a. die hohen (risikoreichen) Mehrlingsschwangerschaftsraten im Vergleich zu Ländern, in denen der sogenannte elektive Single-Embryo-Transfer erlaubt ist und die gleichzeitig ähnlich hohe oder sogar höhere Geburtenraten je Behandlungszyklus aufweisen.

Generell ist eine wachsende Nachfrage nach Kinderwunschbehandlungen zu verzeich-nen. Dies liegt zum einen an einer zunehmenden Etablierung und damit einhergehenden Akzeptanz reproduktiver Technologien. Zum anderen gibt es Hinweise auf einen steigenden Anteil von Paaren mit Fruchtbarkeitsstörungen. Die Ursachen liegen möglicherweise in einer generellen Zunahme von Risikofaktoren wie Umweltbelastungen, ungesunde Lebensführung und urogenitale Infektionen und Erkrankungen. Der wahr-scheinlich wichtigste Grund liegt aber in der zunehmenden Verschiebung des Kinder-wunsches in eine spätere Lebensphase, in der die natürliche Fruchtbarkeit (insbesonde-re bei Frauen) bereits deutlich gesunken und eine Schwangerschaft mit einer Risikoer-höhung für die Gesundheit von Mutter und Kind verbunden ist. Die Vorstellung, man könne die Reproduktion zeitlich entfristen, entsteht auch vor dem Hintergrund sich häufender Berichte über Frauen, die 40 Jahre oder älter sind, und nun scheinbar in der "Blüte ihres Lebens" ihr erstes Kind erwarten. Dass viele dazu die Unterstützung reproduktionsmedizinischer Verfahren in Anspruch nehmen müssen und wie viele letztlich trotz wiederholter künstlicher Befruchtungsversuche ungewollt kinderlos bleiben, wird häufig nicht diskutiert (Wiesmann/Hannich 2005).

Grundsätzlich unterliegt die Aussicht auf die Geburt eines Kindes einer Reihe von Einschränkungen: Auf dem Weg von Eisprung, Befruchtung, Einnistung des Embryos in die Gebärmutter bis zur Geburt existiert eine Vielzahl von Ereignissen, in deren Folge es entweder erst gar nicht zu einer Schwangerschaft kommt oder sich nicht erfolgreich weiterentwickelt. Diese komplexen Prozesse können in vielfältiger Weise gestört sein, was sich auch in Infertilität bzw. Sterilität zeigen kann. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass in Deutschland etwa 0,5 bis 1,5 Mio. bzw. 3 bis 10 % der Paare ungewollt kinderlos sind bzw. bleiben (Wischmann 2008a, S. 32) und (ggf.) auf die Reproduktionsmedizin zur Realisierung ihres Kinderwunsches angewiesen sind. Auch eine vorübergehende Fruchtbarkeitsstörung kommt sehr viel häufiger vor als allgemein eingeschätzt. Eine (medizinisch unterstützte) Abhilfe bei ungewollter Kinderlosigkeit gelang erst im Rahmen der technisch assistierten Reproduktion, bei der die Befruchtung und die ersten Schritte der frühembryonalen Entwicklung im Reagenzglas außerhalb des mütterlichen Körpers stattfinden. 1978 kam in England das erste mithilfe einer extrakorporalen Befruchtung und anschließendem Embryotransfer - der In-vitro-Fertilisation (IVF) - gezeugte Kind zur Welt, vier Jahre später wurde erstmals in Deutschland ein IVF-Kind geboren.

Waren die ersten "Retortenbabys" noch eine Sensation, so zählen 30 Jahre später künstliche Befruchtungen zur medizinischen Routinebehandlung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Jährlich nehmen allein in Deutschland ca. 200.000 Paare re-produktionsmedizinische Hilfen (in irgendeiner Art und Weise) in Anspruch, und in den vergangenen zehn Jahren (1999 bis 2008) sind über 100.000 Kinder nach IVF zur Welt gekommen, d.h. knapp 2 % aller Kinder werden pro Jahr nach einer IVF-Behandlung geboren. Schätzungen zufolge leben weltweit mittlerweile über 4 Mio. Kinder, die nach IVF-Behandlungen (oder ähnlichen Methoden) geboren wurden.

In den letzten Jahren hat die Fortpflanzungsmedizin wesentliche Weiterentwicklungen erfahren. Sie umfasst heute neben der IVF die intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) in die Eizelle mit anschließendem Embryotransfer sowie die Kryokonservie-rung von Keimzellen, imprägnierten Eizellen und Embryonen und deren spätere Verwendung in der assistierten Reproduktion. War die Fortpflanzungsmedizin früher zu-meist auf die Behandlung weiblicher, organisch bedingter Unfruchtbarkeit ausgerichtet, so wurden und werden weitere spezifische Techniken entwickelt. Diese ermöglichen

Die Verfahren der technisch assistierten Reproduktion sind jedoch nicht generell unproblematisch, sondern auch mit diversen Schwierigkeiten verbunden. Zu nennen sind insbesondere die gesundheitlichen Risiken für die Frauen und für die auf diese Weise gezeugten Kinder sowie die psychischen Belastungen der Beteiligten vor, während und nach erfolgten Behandlungen (insbesondere bei ausbleibendem Erfolg der Maßnahmen). Als wichtigster Parameter für den Erfolg einer reproduktionsmedizinischen Behandlung gilt die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines Kindes je Behandlungszyklus, die sogenannte "Baby-take-home-Rate" (BTHR). Weltweit liegt sie bei etwa 20 bis 25 % und damit in der Größenordnung, die auch für die Geburtenquote nach natürlicher Empfängnis angenommen wird. Einen großen Einfluss hat das Alter der Frau auf die natürliche wie die assistierte Geburtenquote: je älter, desto geringer. Zu den Zielen der aktuellen Forschung gehört es daher insbesondere, die Wirksamkeit der technisch assistierten Reproduktionsverfahren zu erhöhen - z.B. durch eine gezielte Vorauswahl der zu übertragenden Embryonen - und die Risiken für Frauen und Kinder zu verringern - insbesondere durch eine Reduzierung der Zahl der Mehrlingsschwangerschaften, die immer ein gesundheitliches Risiko und oft auch eine psychosoziale Belastung darstellen.

1. BEAUFTRAGUNG UND ANLIEGEN DES BERICHTS

Der Deutsche Bundestag hat sich 2002 (EK 2002) und 2004 (TAB 2004) im Zusammenhang mit dem Problembereich Präimplantationsdiagnostik auch mit hierfür relevanten Aspekten der Reproduktionsmedizin befasst. Seitdem hat es jedoch zahlreiche Weiterentwicklungen im Bereich der reproduktionsmedizinischen Forschung, der Methoden sowie deren Überführung in die medizinische Praxis gegeben, die die beabsichtigten und unerwünschten Folgen der reproduktionsmedizinischen Behandlungen wesentlich beeinflussen. Darüber hinaus haben sich europaweit sowie in Deutschland relevante Rahmenbedingungen geändert (z.B. Implementierung der EU-Geweberichtlinie 2004/23/EG; Einschränkung der Kostenübernahme für reproduktionsmedizinische Behandlungen durch die GKV seit 2004; Novellierung der Richtlinie der Bundesärztekammer zur assistierten Reproduktion). Vor diesem Hintergrund wurde das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) beauftragt, einen Überblick über den aktuellen Stand und die Perspektiven der Reproduktionsmedizin zu geben und zu untersuchen, welche internationalen Erfahrungen mit den Methoden und Folgen der Reproduktionsmedizin sowie den jeweiligen Rahmenbedingungen ihrer Anwendung vorliegen.

Durch die Analyse der mit der Anwendung der verschiedenen Reproduktionstechniken vorliegenden Erfahrungen soll gezeigt werden, welches Wechselspiel zwischen den jeweiligen Rahmenbedingungen für die Reproduktionsmedizin und ihren Folgen besteht. Zudem werden nichttechnische, alternative Interventionen bei ungewollter Kinderlosigkeit vergleichend einbezogen. Aus diesen Analysen sollen Hinweise abgeleitet werden, ob und in welcher Weise der in Deutschland bestehende Rechtsrahmen sowie die Rahmenbedingungen der Anwendung weiterentwickelt werden können. Der Bericht ist hierzu folgendermaßen aufgebaut:

In Kapitel II werden Art, Häufigkeit und Ursachen von Fruchtbarkeitsstörungen, die ungewollter Kinderlosigkeit zugrunde liegen, zusammen mit den Verfahren, die üblicherweise zur Diagnostik dieser Fruchtbarkeitsstörungen herangezogen werden, dargestellt. Erläutert wird zudem, inwieweit diese Fruchtbarkeitsstörungen Indikationen zur Anwendung reproduktionsmedizinischer Verfahren darstellen. Darüber hinaus werden die aktuellen Lösungsansätze zum Umgang mit unerfülltem Kinderwunsch, die durch die Reproduktionsmedizin bereitgestellt werden und auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes abzielen, analysiert.

Die Anwendungen der technisch assistierten Reproduktion sowie die Wirksamkeit und die Erfolgsraten der ART-Verfahren in der klinischen Praxis in Deutschland, in Europa, in den USA sowie in einem weltweiten Ländervergleich werden in Kapitel III be-schrieben, analysiert und diskutiert. Neben Entwicklungstrends bei der Art und Häufigkeit der Anwendung reproduktionsmedizinischer Verfahren liegt ein Hauptaugenmerk auf den in den verschiedenen Ländern erzielten Erfolgsraten. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Analyse der Situation in Deutschland. Diskutiert werden zudem die methodischen Probleme der Datenerhebung und -auswertung sowie die Entwicklung und die Anwendung von Indikatoren im Blick auf den Erfolg einer ART-Behandlung in den jeweiligen Regionen und Ländern.

Kapitel IV thematisiert, welche gesundheitlichen Probleme mit reproduktionsmedizinischen Behandlungen assoziiert sind, welche Erkenntnisse über die Häufigkeit und die Ursachen ihres Auftretens vorliegen und inwieweit sie verringert bzw. vermieden werden können. Neben Entwicklungstrends werden gesundheitliche Beeinträchtigungen und Risiken für Frauen sowie für die aus reproduktionsmedizinischen Behandlungen hervorgehenden Kinder dargestellt. Analysiert werden zudem die Folgen von Mehrlingsschwangerschaften und -geburten, da diese aus Sicht der Reproduktionsmedizin das größte und zudem durch die Behandlung selbstverursachte Risiko der ART-Behandlungen sind.

Da die psychischen Folgen von Fertilitätsstörungen sowie psychische Belastungen durch reproduktionsmedizinische Behandlungen bislang meist vernachlässigt wurden, werden in Kapitel V des Berichts der Kenntnisstand zu gesundheitlich relevanten psy-chischen Belastungen und psychosozialen Folgen für Frauen, Männer, Kinder und Familien für die in der klinischen Praxis angewendeten reproduktionsmedizinischen Verfahren umfassend dargestellt und Forschungslücken aufgezeigt. Dabei werden u.a. folgende Leitfragen behandelt: Wie ist die psychosoziale Betreuung im Allgemeinen in Deutschland organisiert und im Detail ausgestaltet? Welche Maßnahmen werden durch wen angeboten, und wie sind die Qualität der Beratung, die Qualifikation der Beratenden und die Qualitätssicherung insgesamt einzuschätzen? Es werden Stärken und Schwächen aufgezeigt und Handlungsbedarf angesprochen.

Gesetzliche und standesrechtliche Regelungen sowie strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen haben einen bestimmenden Einfluss auf Ausmaß und Art des Angebots, Durchführung, Nachfrage und Inanspruchnahme von Verfahren der tech-nisch assistierten Reproduktion. Hier gibt es im internationalen Vergleich z.T. große Unterschiede, inwieweit, mit welchen Zielsetzungen und unter welchen Rahmenbedingungen ART-Verfahren überhaupt erlaubt sind, in welchem Maße sie in der repro-duktionsmedizinischen Praxis eingesetzt werden und welche intendierten und nichtintendierten Folgen hiermit jeweils verbunden sind. Die genannten Aspekte werden in Kapitel VI in einer Gesamtperspektive und die relevanten rechtlichen Rahmenbedin-gungen für die Anwendung reproduktionsmedizinischer Interventionen im Einzelnen analysiert. Geprüft wird auch, inwieweit neue Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin durch das geltende Recht in Deutschland abgedeckt bzw. nicht oder unzurei-chend geregelt sind. Eine Erörterung von Ansatzpunkten für eine mögliche Weiterentwicklung des gesetzlichen Rahmens in Deutschland rundet die Rechtsanalyse ab.

Im abschließenden Kapitel VII werden Schlussfolgerungen gezogen und ein Ausblick auf möglichen Handlungsbedarf und Handlungsoptionen für die deutsche Politik, auch in Bezug auf den zum Teil noch notwendigen gesellschaftlichen und rechtlichen Klärungsbedarf, gegeben.

3. GUTACHTER UND DANKSAGUNG

Bei der Durchführung der Untersuchung kooperierte das TAB mit ausgewiesenen Fachexperten. Für eine intensive Bearbeitung dieses komplexen Themenfeldes und mit dem Ziel einer hohen wissenschaftlichen Fundierung wurden insgesamt drei Gutachten erstellt, die in die Bearbeitung der zuvor genannten Schwerpunkte, Fragestellungen und Aspekte eingeflossen sind:

Die Gutachten bilden eine wesentliche Basis des Berichts. Im laufenden Text sind je-weils Verweise darauf enthalten, welche Passagen sich schwerpunktmäßig auf welche Gutachten stützen. Die Verantwortung für die Auswahl, Strukturierung und Verdich-tung des Materials sowie dessen Zusammenführung mit weiteren Quellen sowie eigenen Recherchen und Analysen liegt selbstverständlich bei den Verfassern dieses Berichts.

Den Gutachterinnen und Gutachtern sei für ihre detailreichen Gutachten, die Ergebnisse und die hohe Qualität ihrer Arbeit sowie ihre Kooperations- und Diskussionsbereitschaft sehr herzlich gedankt. Besonders gedankt sei Dr. Heike Reinhold und Sandra Lerch (Fraunhofer ISI) für ihre sehr sorgfältige Aufbereitung und Analyse der statistischen Daten zur assistierten Reproduktion in der klinischen Praxis, die die Basis für Kapitel III darstellen. Ein besonderer Dank geht auch an Dr. Thomas Petermann und Dr. Arnold Sauter für die kritische Durchsicht und konstruktive Kommentierung des Berichts und nicht zuletzt an Ulrike Goelsdorf und Johanna Kniehase für die Aufbereitung der zahlreichen Abbildungen und die Erstellung des Endlayouts.

 

Erstellt am: 13.05.2011 - Letzte Änderung am: 13.05.2011 - Kommentare an: webmaster