KIT-Logo Grunwald, A.; Hartlieb, J. von (Hrsg.):

Ist Technik die Zukunft der menschlichen Natur?
36 Essays

Hannover: Wehrhahn, 2012, ISBN 978-3-86525-095-7, 345 S., 19,80 Euro
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Einführung

Auf dem Weg zum technisch optimierten Menschen?

Ein Essay-Wettbewerb und sein Kontext

»Ganz hinten hockten die Tauben. An jedem Käfig hing ein kleiner Kasten, und in jedem Kasten steckte eine Bewertungskarte. Auf jeder Karte waren die Kategorien Vorzüge, Wünsche und Mängel aufgedruckt, und darunter standen handschriftliche Eintragungen. [...] Am unbarmherzigsten waren die Eintragungen in der Kategorie Wünsche. [...] War es denn möglich, daß Menschen in ihrer unerschöpflichen Wunschkraft sich Tiere sogar anders wünschten, als sie waren und sein konnten?« (Wilhelm Genazino: Abschaffel)

1.1    Idee und Anlage des Wettbewerbs

2006, im fünfzigsten Jahr seines Bestehens, schrieb das Forschungszentrum Karlsruhe einen Essay-Wettbewerb aus. »Ist Technik die Zukunft der menschlichen Natur?« lautete die an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedweder Disziplin gerichtete »akademische Preisfrage«. Die Wettbewerbsmacher aus den Reihen der Öffentlichkeitsarbeit und der Technikfolgenforschung griffen damit auf eine Form des öffentlichen Debattierens zurück, die der Aufklärungszeit entstammt. Ihre Hoffnung zielte darauf ab, den historischen Impuls eines ungebundenen, schriftlich entfalteten Reflektierens in ein Forum von heute zu überführen, besucht von jüngeren Wissenschaftlern, die sich anschicken, in Forschung und Lehre, in Wirtschaft, Politik und Publizistik Verantwortung zu übernehmen. Eben sie wollten wir anregen, anhand einer zukunftsweisenden und fächerübergreifenden Fragestellung über die Zusammenhänge und Wirkungen ihrer zumeist hoch spezialisierten Tätigkeit nachzudenken. 153 Texte aus 9 Ländern – von denen dieser Band eine Auswahl für den Druck überarbeiteter und aktualisierter Aufsätze präsentiert – haben jene Hoffnung mehr als eingelöst.

Abwehr, Erleichterung, Bewältigung, Erschließung – Bestimmungen wie diese sind dem neuzeitlichen Technikbegriff von jeher mitgegeben. Mit den spektakulären Fortschritten in den experimentellen Wissenschaften, in der Mathematik und im Ingenieurwesen tritt Mitte des 19. Jahrhunderts ein Moment hinzu, den man als metaphysische Selbstermächtigung bezeichnen könnte; die Wissenschaften, so bemerkt etwa der Pathologe Rudolf Virchow im Jahr 1860, »treten in die Stellung der Kirche«. Über die lebensweltliche Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnis hinaus wird das Technische nunmehr als ein Arsenal des Wünschbaren wahrgenommen. Dieser Verstrebung der »unerschöpflichen Wunschkraft« (W. Genazino) des Menschen mit der unerschöpflichen Möglichkeitskraft des Technischen entspringen fortan ebenso präzise wie phantastische Szenerien, und es scheint, als sollte die konkret-utopische Doppelstruktur des Technischen mit der Zunahme des Wissens immer ausgreifendere und drängendere Zukunftsvorstellungen hervorbringen.

Dieses Wechselspiel von naturwissenschaftlich-technischer Entwicklung und menschlichem Selbstentwurf erlangt in der Gegenwart eine neue Qualität. Niemals zuvor sind die Träume des Technischen dem Menschen so nahe gekommen wie jetzt; ganz buchstäblich rücken sie ihm auf den Leib. Niemals zuvor zugleich hat Technik in den Träumen, die Menschen von der Zukunft träumen, eine ähnliche Dominanz ausgeübt wie heute. Unter dem Rubrum »Verbesserung des Menschen« schicken sich Disziplinen wie Genetik, Medizin, Nanotechnologie, Hirnforschung und Informatik an, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Spezies in einem Ausmaß zu verändern, das der Science-Fiction vorbehalten zu sein schien. Mit Wucht stellt sich daher die Frage nach der Eigenart eines Fortschritts, der begonnen hat, Körper und Geist als legitime Wirkungszone für sich zu reklamieren. Von der »wunscherfüllenden« Chirurgie bis zur erweiterten Gehirnfunktion, von der Gentherapie bis zum Nanoroboter – verbessert, ja optimiert werden soll der Mensch, bis zur Unsterblichkeit. Was aber meint die Rede von der »Verbesserung des Menschen« eigentlich? Welche Hoffnungen und Konzepte, welche Bilder und Verheißungen, welche Interessen und Unwägbarkeiten stehen hinter den Entwürfen einer »Hybrid-Anthropologie«, in der Menschliches und Technisches ineinander übergehen? Wird der am Machbarkeitshorizont aufscheinende Umbau des Körpers den sozialen und politischen Diskursen einst den Rang ablaufen? Werden Schwächen und Fehler des Individuums dann als »Wartungsmängel« gebrandmarkt? Ist es an der Zeit für eine Kritik der körpertechnologischen Vernunft, oder sollte die »antiquierte« Gattung Mensch der Evolution 2.0 beherzt die Tür öffnen?

Inmitten derartiger Fragen haben wir bei der Konzeption des Essay-Wettbewerbs angesetzt. Zwischen frohgemuten Visionen des »Enhancement« und Dystopien des »Abschieds vom Menschen« war uns daran gelegen, eine Ebene der Betrachtung1 einzuziehen, eines grundsätzlichen Nachdenkens darüber, welchen Einfluss Technik auf die leiblich-seelische Verfasstheit des Menschen nehmen kann. Wir fragten uns, was der Mensch, der sich selbst zum Technologieprojekt macht, gewinnen mag, und was er zu verlieren Gefahr läuft. So gerieten wir auf den, zugegebenermaßen, schillernden Begriff der »menschlichen Natur«. Er suggeriert ein eigentliches menschliches Sein vor jeder Berührung mit Kultur, also mit Technik. An dieser schroffen, normativ anmutenden Kontrastierung »des Menschlichen« und »des Technischen« haben sich nicht wenige Wettbewerbsteilnehmer gerieben. Uns erschien sie als eine, wenn man so will, notwendige Provokation, um von den allzu gebahnten Pfaden eines Evolutionismus loszukommen, für den jegliche Wechselwirkung zwischen angewandter Wissenschaft und Gesellschaft – begriffen als Funktion eines biologisch determinierten Überlebenskampfes der Gattung – immer schon stattgefunden hat und deshalb auch künftig ganz in Ordnung geht.2 Die alte »Frage nach der Technik« – als nach etwas dem Menschen von je her Zuhandenem und Aufgegebenem, deshalb aber noch längst nicht Durchschautem – stellt sich an der Schwelle zur technologischen Verbesserbarkeit des Menschen jedoch durchaus neu. Insofern sollte auch der Zweifel daran, dass es überhaupt ratsam ist, den Anspruch auf (Ver-)Besserung an die »Vollstreckung des Prinzips der Technizität« (H. Blumenberg) abzutreten, ein Gesichtspunkt der Debatte sein – ebenso wie die Trauer darüber, den Gegenentwurf einer aufgeklärten, im Geschichtsverlauf sich entfaltenden Humanität so oft als frommen Betrug erlebt zu haben.

1.2    Verankerung der Wettbewerbsthematik am Karlsruher Institut für Technologie

Am KIT, dem im Oktober 2009 aus dem Zusammenschluss des Forschungszentrums Karlsruhe und der Universität Karlsruhe hervorgegangenen Karlsruher Institut für Technologie, ist die Wettbewerbsthematik in zweierlei Hinsicht verankert. Zum einen werden in einer Anzahl von Projekten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten betrieben, die geeignet sind, den menschlichen Leistungsradius zu verändern. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten am KIT-Schwerpunkt »Anthropomatik und Robotik« zur menschenzentrierten Robotik (z. B. Roboter als Assistenten im Alltag und in der Produktion), zur Verarbeitung von Biosignalen (z. B. nervengesteuerte Prothesen) und zur Mensch-Maschine-Kommunikation (z. B. automatische Sprachübersetzung).

Zum anderen ist das KIT ein Ort, an dem in interdisziplinärer Aufgeschlossenheit über die Beziehungen zwischen »Mensch und Technik« (so der Name eines weiteren Forschungsschwerpunkts) nachgedacht wird. Besonders am KIT-Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) beschäftigen sich Wissenschaftler seit geraumer Zeit mit den »konvergierenden Technologien«3. Die sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Aspekte des »Human Enhancement« finden dabei ebenso Beachtung wie dessen ethische Dimension. Den Bezugsrahmen der national wie international beachteten Studien bilden das vom ITAS betriebene »Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag«4 sowie das Europäische Parlament und die Europäische Kommission.5

1.3    Verlauf und Ergebnis des Wettbewerbs

Der Essay-Wettbewerb wurde im Frühjahr 2006 mit einer breit angelegten Ausschreibungskampagne gestartet; über das Internet und ausgewählte Goethe-Institute auch im Ausland. Erbeten wurden eigenständige, allgemein verständliche Texte in deutscher Sprache von bis zu 20.000 Anschlägen. Um gezielt die jüngere Wissenschaftlergeneration anzusprechen, war das Teilnahmealter auf 40 begrenzt. Für die drei besten Abhandlungen wurde ein Preisgeld von insgesamt 9000 Euro ausgelobt.

Die Resonanz war bemerkenswert: Nach drei Monaten Schreibzeit reichten 153 Autorinnen und Autoren aus neun Ländern einen Essay ein. Dabei unterstrich die breit gefächerte fachliche Provenienz der Einsender, dass die Frage nach der »Verbesserung des Menschen« den Theologiestudenten, die Erziehungswissenschaftlerin und den Soziologiedozenten ebenso umtreibt wie den Postdoc der Biologie, die angehende Ärztin oder den Teilchenphysiker. (Ein Drittel der Teilnehmer waren übrigens Frauen.) Geographisch gesehen, erstreckte sich der Teilnehmerkreis naturgemäß vor allem auf das Bundesgebiet; doch auch aus Österreich, der Schweiz, Frankreich, England, Ungarn, den USA, Russland und China meldeten sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort.

Den so unterschiedlichen biographischen Koordinaten der Verfasser korrespondierte eine erfreuliche Vielfalt der Schreibweisen: Den wissenssatt-ausholenden, auf akademische Stringenz und Ausdrücklichkeit angelegten Essays gesellten sich erzählend-visionäre, subjektiv-gefühlvolle, lakonisch-ironische und parteilich-engagierte Tonlagen hinzu. Mit der Fülle dieser Texte beschäftigte sich in der Folge eine mit vier namhaften Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtung und einem Journalisten besetzte Jury. Unter dem Vorsitz von Armin Grunwald ermittelten die Juroren in mehreren Bewertungsrunden die drei Preisträger Erik Strub, Meike Adam und Alexander Kochinka und trafen für den vorliegenden Sammelband eine erste, von den Herausgebern ergänzte Auswahl. Am 17. November 2006 schließlich wurden die Gewinner des Wettbewerbs im Badischen Staatstheater Karlsruhe öffentlich ausgezeichnet. Ein gemeinsam mit dem Badischen Staatstheater veranstaltetes »Theatralisches Symposium« bereitete dabei – in Einzelbeiträgen, in einem Podiumsgespräch sowie in Szenen aus Theaterstücken von Edward Albee und Elfriede Jelinek – die Bühne für eindringliche In-Szene-Setzungen der Wettbewerbsthematik.

Auf dem Weg zum technisch optimierten Menschen?

Das Bild des Menschen von sich selbst ist eng mit dem Verhältnis von Mensch und Technik verbunden. Spätestens, seit sich der technische Fortschritt in der industriellen Revolution stark beschleunigt hat, wird dieses Verhältnis immer wieder kontrovers diskutiert. Technisierungshoffnungen stehen Technisierungsbefürchtungen gegenüber. Insbesondere dort, wo es um eine technische Verbesserung, gar Optimierung des Menschen geht, scheiden sich die Geister, wie dies der Blick auf die Science-Fiction in Film und Literatur, auf Philosophie und Ethik sowie auf Debatten im Feuilleton zeigt. Die Diskussion um Mensch und Technik ist zurzeit wohl diejenige Arena, in der die ständige Selbstvergewisserung darüber, was den Menschen auszeichnet, am intensivsten betrieben wird.

2.1    Die Unvollkommenheit des Menschen

Die Geschichte des Menschen ist auch eine Geschichte der Unzufriedenheit mit sich selbst. Die »Verbesserung des Menschen« ist ein altes Thema. Unzufriedenheit mit seiner physischen Ausstattung, seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, mit der Abhängigkeit von äußeren Ereignissen wie Krankheiten, mit der Unausweichlichkeit des Alterns und letztlich des Todes, Unzufriedenheit mit seinen moralischen Fähigkeiten oder – und dies dürfte besonders häufig sein – mit seinem körperlichen Aussehen begleiten den Menschen von alters her, wie dies vielfach in Sagen, Legenden und Märchen überliefert ist.

Technik spielte immer schon eine Rolle dabei, mit wenigstens einem Teil dieser Unvollkommenheitserfahrungen umzugehen oder sie zu kompensieren. Verfahren wurden entwickelt und etabliert, um bestimmten Verbesserungswünschen nachzuhelfen. Die heutige Schönheitschirurgie, als ein Wirtschaftsbereich mit einem erheblichen und weiter steigenden Umsatz, ist die aktuell wohl am meisten verbreitete Form der »Verbesserung« des Menschen. Die Gehirnleistung dagegen wird, zum Beispiel vor Examensprüfungen, zunehmend durch den Einsatz von Pharmazeutika gesteigert – auch wenn wissenschaftliche Untersuchungen bislang keine realen »Verbesserungen« zeigen. Es wird bereits von »Hirndoping« und von »Alltagsdoping« gesprochen. Der zunehmende Druck in der Arbeitswelt scheint, wie Umfragen zeigen, die Bereitschaft zum Einnehmen leistungssteigernder Substanzen deutlich zu erhöhen. Ja, manche sprechen bereits davon, dass wir uns im Übergang von einer Leistungs- zu einer Leistungssteigerungsgesellschaft befinden – analog zum Sport. Schließlich soll das Doping im Sport bestimmte Leistungen bestimmter Menschen verbessern – sportethisch allerdings geächtet und teils mit erheblichen Gesundheitsschäden bis hin zum vorzeitigen Tod von Betroffenen verbunden.

Sind die genannten Formen der Verbesserung auf Individuen bezogen (sportliche Höchstleistungen, individuelle Schönheit), so ist auch die kollektive Verbesserung des Menschen kein neues Thema. Die in moralischer oder zivilisatorischer Hinsicht oft beklagten Defizite des Menschen (etwa in der Redewendung »homo homini lupus«) führten zum Beispiel in der europäischen Aufklärung zu Ansätzen, durch gezielte Erziehung zu versuchen, den Menschen insgesamt, d. h. in seiner individuellen wie gesellschaftlichen Verfasstheit, zu verbessern. Ansetzend beim Einzelnen, vor allem in der Schulbildung, sollten weitreichende Prozesse einer auch moralischen Höherentwicklung der menschlichen Zivilisation angeregt und unterstützt werden.

Aber auch in totalitären Regimen wurde von einer Verbesserung des Menschen gesprochen, wobei die Kriterien der Verbesserung aus den jeweiligen Ideologien abgeleitet wurden. So wurde im nationalsozialistischen Deutschland unter »Verbesserung« vor dem Hintergrund der rassenbiologischen Ideologie vor allem eine »Arisierung« verstanden. Als Ideal galt die Verbindung von bedingungsloser Unterordnung unter das Regime mit gewissen körperlichen Merkmalen (blond, blauäugig, sportlich). »Menschenzüchtung« (P. Sloterdijk) war hier erklärtes Programm. Im Stalinismus hingegen bediente man sich zur »Verbesserung« des Menschen vor allem sozialtechnologischer Verfahren wie Propaganda und Indoktrination.

Auf diese Weise steht die »Verbesserung des Menschen« in einer langen und ambivalenten Tradition. Vor dem Hintergrund der zumeist verheerenden Erfahrungen mit den Verbesserungsphantasien und ihrer Umsetzung in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts ist zumindest zu lernen, dass das Wort »Verbesserung« mit Vorsicht zu betrachten ist. »Verbesserung« gibt es nicht »an sich«, sondern immer nur relativ zu bestimmten Kriterien. Eine Verbesserung relativ zu bestimmten Kriterien (z. B. der Einübung in die stalinistische Orthodoxie) kann eine Verschlechterung in Bezug auf andere Kriterien bedeuten, z. B. im Hinblick auf das Ideal des emanzipierten Staatsbürgers. Vorsicht – auch gegenüber den neuen technischen Utopien – ist also geboten, um nicht in die rhetorische Falle zu laufen, etwas, das als Verbesserung bezeichnet wird, gleich als eine Verbesserung »an sich« anzusehen – und damit als positiv und wünschenswert.

2.2    Technische Verbesserung des Menschen – neue Utopien

Seit einigen Jahren steht die »Verbesserung des Menschen«, das »Human Enhancement«, wieder auf der Tagesordnung. Dabei geht es nicht um eine Verbesserung durch Erziehung und Kultur, sondern um eine wissenschaftlich-technische Verbesserung. Ausgelöst wurde diese Diskussion im Jahr 2002 durch den Bericht einer amerikanischen Forschergruppe für die National Science Foundation (NSF), die die größte Einrichtung der Forschungsförderung in den USA ist und einen erheblichen Einfluss auf die Agenda der Wissenschaften hat. Der Titel dieses Berichts ist sein Programm: »Converging Technologies for Improving Human Performance«. Das Ziel der technischen Verbesserung des Menschen so prominent und selbstbewusst in den Titel des Reports hineinzuschreiben, hat schnell zu einer weltweiten Diskussion geführt.

Revolutionäre Fortschritte in den Wissenschaften, angestoßen vor allem durch die Nanotechnologie, eröffnen dem Report zufolge weitreichende Perspektiven, den menschlichen Körper und Geist durch technische Maßnahmen gezielt »umzugestalten« und zu »verbessern«. Konkret werden häufig folgende Verbesserungsutopien genannt:

  • Erweiterung der sensorischen Fähigkeiten des Menschen: Die Fähigkeiten des menschlichen Auges könnten erweitert werden, z. B. im Hinblick auf die Sehschärfe (›Adlerauge‹) oder im Hinblick auf eine Nachtsichtfähigkeit durch die Erweiterung des erfassbaren elektromagnetischen Spektrums; andere Sinnesorgane wie das Ohr könnten analog verbessert werden.
  • Erweiterung von Gehirnfunktionen durch technische Hilfe: Die Speicherkapazität des Gehirns könnte verbessert, dem Vergessen von Informationen könnte durch technische Redundanz vorgebeugt werden. Auch die Informationsverarbeitungskapazität des Gehirns könnte zum Gegenstand von Verbesserungsversuchen werden. Die Kriterien des Verbesserns wären hier durch Begriffe der Informationstechnik zu erfassen; das Gehirn wird als ein Computer betrachtet, dessen Speicher- und Rechenkapazität vergrößert wird.
  • Verlangsamung des Alterns: Wenn es gelänge, jegliche Form der Degradation auf zellulärer Ebene im menschlichen Körper sofort zu entdecken und zu reparieren, könnte das Altern erheblich verlangsamt oder sogar abgeschafft werden. Die »Verbesserung« würde sich hier auf eine deutliche Erweiterung der menschlichen Lebensspanne erstrecken. Von manchen wird von einer in wenigen Jahrzehnten möglicherweise erreichbaren Lebenserwartung von 250 Jahren gesprochen.

Die Fähigkeiten, die dem Menschen im Laufe der Evolution zugewachsen sind und die bislang, genauso wie die Grenzen dieser Fähigkeiten, als nicht beeinflussbar galten, würden auf diese Weise in gestaltbare Eigenschaften transformiert. Ganz in der Tradition des technischen Fortschritts – der zu jeder Zeit Zustände und Entwicklungen, die bis dato als vorgegeben, als unverfügbares Schicksal, angesehen wurden, in beeinflussbare, manipulierbare und gestaltbare Zustände und Entwicklungen überführt hat – würden der menschliche Körper und sein Geist in die Dimension des Gestaltbaren geraten.

Diese Entwicklungslinien ins Spekulative verlängert, verschwimmt der Unterschied zwischen Mensch und Technik. Die technische »Optimierung« oder »Perfektionierung« des Menschen könnte zu technisch erweiterten Menschen oder zu menschlich erweiterter Technik führen. In den Visionen zur Nanotechnologie tauchen immer wieder Aspekte auf, die die Grenze zwischen dem verwischen, was Menschen (bislang) sind, und dem, was sie mit Hilfe technischer Errungenschaften und Anwendungen aus sich machen könnten.

Der weltanschauliche Hintergrund, vor dem diese Entwicklungen nicht nur begrüßt, sondern als letztendliches Ziel der Menschheitsentwicklung aufgefasst werden, ist der Transhumanismus, der vor allem in den USA Anhänger hat, in den letzten Jahren jedoch auch in Europa Fuß gefasst hat. Im Transhumanismus wird die Aufgabe des Menschen darin gesehen, sich selbst auf wissenschaftlich-technischem Weg zu verbessern, auf diese Weise die Entstehung einer »kollektiven Intelligenz« der Menschheit zu befördern und schließlich eine neue, technische Zivilisation jenseits der heutigen Menschheit zu ermöglichen. Der Mensch als »Mängelwesen«, wie ihn der Biologe und Philosoph Arnold Gehlen begrifflich erfasst hat, könne und müsse durch seine technische Perfektionierung den Status des Mängelwesens überwinden. Einreden und Gegenpositionen zu dieser Extremhaltung fußen auf der philosophischen Anthropologie; sie argumentieren beispielsweise mit der Notwendigkeit des Erhalts der Bedingungen von Moralität oder mit dem christlich-humanistischen Menschenbild. In dieser mit weitreichenden Spekulationen operierenden Debatte spielen die konkreten wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten heute nurmehr eine geringe Rolle; gleichwohl hat sie für das Selbstverständnis des Menschen heute und auch für die weitere Ausrichtung der wissenschaftlichen Agenda reale Folgen.

2.3    Der atomare Reduktionismus als Hintergrund

Dass es zu dieser Debatte gekommen ist, hat mit der Nanotechnologie zu tun und mit dem Konzept der »konvergierenden Technologien«, wie es in dem erwähnten Bericht der NSF entworfen wurde. Die Idee der technologischen Konvergenz besteht darin, dass Entwicklungen aus Nanotechnologie, Bio- und Gentechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Kognitionswissenschaften und Hirnforschung zusammenkommen (sog. NBIC-Konvergenz) und so radikal neue Möglichkeiten eröffnen.

Der Nanotechnologie kommt dabei eine herausgehobene Bedeutung zu, da sie die gezielte Manipulation auf molekularer und atomarer Ebene möglich machen soll. So trug das erste große US-amerikanische Forschungsprogramm zur Nanotechnologie, in Kraft gesetzt im Jahre 1999, den bezeichnenden Titel »Shaping the World Atom by Atom«, folgend einer 1986 publizierten Idee des Technikvisionärs Eric Drexler, wonach Nanomaschinen (molekulare Assembler) durch das gezielte Umordnen von Atomen aus nahezu beliebigen Ausgangsstoffen in der Lage sein sollen, alles Gewünschte herzustellen:

»In short, replicating assemblers will copy themselves by the ton, then make other products such as computers, rocket engines, chairs, and so forth. They will make disassemblers able to break down rock to supply raw material. […] Teams of nanomachines in nature will build whales. […] Assemblers will be able to make virtually anything from common materials without labour, replacing smoking factories with systems as clean as forests.«6

Wenn durch die Nanotechnologie Möglichkeiten bereitgestellt werden, Vorgänge auf der atomaren und molekularen Ebene gezielt technisch zu kontrollieren, dann habe der Mensch, so Drexler, den Beginn aller Kausalketten in der Hand und könne praktisch alles kontrollieren – unter der Voraussetzung, dass die Vorgänge auf der atomaren Ebene die Vorgänge auf allen komplexeren Ebenen im Sinne eines atomaren Reduktionismus vollständig determinieren. Auch die Sphären des Lebendigen und des Sozialen sollen von der atomaren Basis her erklärt und technisch manipulierbar gemacht werden, wie es in dem erwähnten Bericht der National Science Foundation heißt:

»Science can now understand the ways in which atoms form complex molecules, and these in turn aggregate according to common fundamental principles to form both organic and inorganic structures. […] The same principles will allow us to understand and when desirable to control the behaviour both of complex microsystems […] and macrosystems such as human metabolism and transportation vehicles.«7

In den Drexlerschen Visionen ist dieser Assembler eine technische Allzweckwaffe, mit der alles Beliebige herstellbar wäre und mit der letztlich alle Menschheitsprobleme gelöst werden könnten. Einige Ideen zur »Verbesserung des Menschen« gehen auf Visionen von Drexler zurück, so die Idee von Nanorobotern in der Blutbahn, die für eine Verlangsamung bzw. Abschaffung des Alterns sorgen.

Abseits solcher Ideen findet ein realer und rascher wissenschaftlich-technischer Fortschritt statt, so dass die Visionen einer technischen Verbesserung des Menschen nicht sofort als wissenschaftlich irrelevante Science-Fiction abgetan werden dürfen. Grundlegende Lebensprozesse ereignen sich im Nano-Maßstab, und wesentliche Bausteine des Lebens, etwa Proteine, haben genau diese Größenordnung. Durch Nano-Biotechnologie können biologische Prozesse nanotechnisch kontrollierbar werden. Molekulare »Fabriken« (Mitochondrien) und »Transportsysteme«, wie sie im Zellstoffwechsel eine wesentliche Rolle spielen, können Vorbilder für kontrollierbare Bio-Nanomaschinen sein. Eine Vernetzung natürlicher biologischer Prozesse mit technischen Prozessen erscheint denkbar, wenn biologische Mechanismen der Energieerzeugung (subzelluläre »Fabriken« und Transportsysteme sowie Datenspeicher) technisch nachgebaut werden können. Funktionelle Biomoleküle würden als Bestandteile von Lichtsammel- und Umwandlungsanlagen, Signalwandler, Katalysatoren, Pumpen oder Motoren arbeiten. Die Vorgänge des Lebens werden technisch gedeutet, sodann technisch reproduziert, um schließlich technisch gezielt modifiziert werden zu können. Molekularbiologie, Genetik und Neurophysiologie werden dabei sozusagen nanotechnisch unterwandert und konvergieren auf diese Weise auf der atomaren und molekularen Ebene. Ein praktisch wie auch ethisch besonders interessantes Teilgebiet ist die Überbrückung der Lücke zwischen technischen Informationssystemen und dem Nervensystem. Viele Wissenschaftler arbeiten intensiv an einer Verbindung der molekularbiologischen mit der technischen Welt. Hier trifft das Stichwort der »konvergierenden Technologien« in Gänze zu: Biotechnologie, Hirnforschung, Nervenphysiologie, Informations- und Kommunikationstechnik treffen sich auf der Basis der Nanotechnologie, wenn es darum geht, elektrische Impulse an Kontakten oder Drähten in Impulse umzusetzen, die vom Nervensystem »verstanden« und verarbeitet werden können.

Entwicklungen dieser Art machen deutlich, dass jenseits der erwähnten spekulativen Erwartungen ganz konkrete wissenschaftliche Fortschritte vor sich gehen, die einige der Visionen zur technischen Verbesserung des Menschen realistisch anmuten lassen und daher einer Reflexion darüber bedürfen, was sie für die Zukunft des Menschen bzw. die »Zukunft der Natur des Menschen« (J. Habermas) bedeuten.

2.4    Ethische Herausforderungen

Überlegungen zur technischen Verbesserung des Menschen erweitern die Denk- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Sie stellen bislang Selbstverständliches in Frage wie zum Beispiel die üblichen Grenzen der Körperfunktionen des Menschen. Die Verwandlung von etwas als gegeben Hinzunehmendem in etwas Manipulierbares ist das Kennzeichen des technischen Fortschritts. In dem Maße, wie die menschliche Verfügungsmacht erhöht wird, eröffnen sich neue Räume für Visionen und Gestaltung, aber gleichzeitig, sozusagen als Nebenfolge, auch die Herausforderung, die neuen technischen Möglichkeiten mit neuen Formen der Orientierung zu verbinden, die Klarheit darüber verschaffen, wie wir mit den neuen Möglichkeiten künftig umgehen können und wollen.

Ethische Herausforderungen zu betrachten heißt keineswegs, nur nach den Risiken des »Human Enhancement« zu fragen. So ist einerseits zunächst festzustellen, dass eine technische Verbesserung des Menschen emanzipatorisch eine Befreiung von den Zwängen der Natur darstellt, etwa in Hinsicht auf das Altern oder auf das sensorische Vermögen. Sie könnte zu einer »Kulturalisierung« bislang naturaler Elemente des Menschen führen. Bisherige Selbstverständlichkeiten wie die, dass Menschen bei Dunkelheit nicht sehen können, dass sie keine Radarfähigkeiten besitzen, dass Schnittstellen zur Technik (z. B. zu einem Computer) nur über recht komplexe Vorgänge realisiert werden können oder dass das menschliche Leben eine begrenzte Dauer hat, werden fraglich. Diese Begrenzungen aufzuheben oder abzumildern bedeutet einen Zugewinn an Autonomie, was in der Tradition der europäischen Aufklärung zunächst grundsätzlich positiv angesehen wird.

Andererseits stellt die technische Verbesserung des Menschen traditionelle Selbstverständlichkeiten in Frage: Der Mensch mit seinen bislang als selbstverständlich anerkannten physischen und mentalen Fähigkeiten und Grenzen würde zum Gegenstand technischer Manipulation. Für den Umgang mit dieser Situation gibt es noch keine Erfahrungen. Beispiele sind die Fragen:

  • Nach welchen Kriterien wird verbessert? Wie wird über die Kriterien entschieden? Sind Verbesserungen in einer Hinsicht mit Verschlechterungen in anderer Hinsicht verbunden? Wie wäre in solchen Fällen abzuwägen?
  • Stößt das technische Verbessern des Menschen einen unendlichen Raum immer weiterer Verbesserungen auf, oder bestehen Grenzen des Verbesserns? Wie können Grenzen begründet werden und wie belastbar sind sie in argumentativer Hinsicht?
  • Welche Risiken für die betroffenen Individuen sind zu beachten, und wie kann ein Missbrauch von Verbesserungstechnologien vorbeugend verhindert werden? Reicht ein »Informed Consent« aus, oder sind Situationen vorstellbar, in denen Verbesserungswillige vor sich selbst geschützt werden müssen?
  • Das »Verbessern« ist kategorial verschieden vom »Heilen«, dem traditionellen Ethos der Medizin. Wenn der Arzt zum Körperdesigner wird, dürfte dies erhebliche Auswirkungen auf das berufliche Selbstverständnis und das Arzt-Patient-Verhältnis haben.
  • Welche Folgen hat eine technische Verbesserung des Menschen unter Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit, zum Beispiel im Hinblick auf eine vertiefte Spaltung der Gesellschaft?
  • Wie stehen wir zu den »Verbesserungen« des Menschen, die längst Teil unserer Gesellschaft sind: Schönheitschirurgie, Doping oder leistungsstimulierende Pharmazeutika?
  • Wird eine Spirale in Gang gesetzt, die zum Zwang immer weiterer Verbesserungen führt, um zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben?
  • Werden durch akzeptierte Optionen des Verbesserns bislang akzeptierte und praktizierte Lebensformen (zum Beispiel das Leben als Behinderter) abgewertet oder unmöglich gemacht?
  • Sollen öffentliche Forschungsgelder bereitgestellt werden, um Angebote des Verbesserns wissenschaftlich zu entwickeln und in die Praxis zu überführen?

Häufig wird angesichts der neuen Möglichkeiten der technischen Verbesserung des Menschen auf seine Natürlichkeit hingewiesen. Darf der Mensch sich so, wie er sich vorfindet, aus dem Schöpfungs- bzw. dem Evolutionszusammenhang befreien und seine Natürlichkeit zugunsten einer von ihm selbst geschaffenen »künstlichen« Zukunft aufgeben? In öffentlichen Debatten erwächst viel Unbehagen gerade an dieser Stelle. Die Situation stellt sich jedoch in anthropologischer und auch in ethischer Hinsicht als komplex dar. Der Mensch ist nicht einfach »natürlich«, sondern, worauf auch zahlreiche Texte dieses Bandes hinweisen, »kultürlich«. Helmuth Plessner spricht von der »natürlichen Künstlichkeit« des Menschen und sagt, der Mensch sei Natur- und Kulturwesen zugleich.

Damit lässt sich aus der Natürlichkeit des Menschen kein eindeutiges Argument hinsichtlich seiner technischen Verbesserung gewinnen: Eine technische Verbesserung ist einerseits unnatürlich, weil sie den gegenwärtigen natürlichen Zustand übersteigt; andererseits aber ist es für Menschen auch »natürlich«, auf dem einmal erreichten Stand nicht stehen zu bleiben. Kurz und knapp: »Die ›Natur des Menschen‹ ist also kontingent« (J. Clausen). Die Natürlichkeit des Menschen insofern zu einem Argument zu machen, als wir die evolutionär erworbenen Fähigkeiten des Sehens, des Hörens, des Denkens etc. deswegen nicht technisch verbessern dürfen, weil sie natürlich entstanden und evolutionär gewachsen sind, wäre daher ein Fehlschluss. Die Beschränkung der menschlichen Fähigkeiten auf die natürlich mitgegebenen Eigenschaften bedeutete eine »Musealisierung« und würde die kulturellen Seiten des Menschseins ausblenden, zu denen auch gehört, sich selbst zu transzendieren, d. h. über das Bestehende hinauszudenken.

Die Diskussion derartiger Fragen ist eine gesellschaftliche Aufgabe von großer Tragweite. Aufweichung und Auflösung von Grenzen sind genauso wenig sich selbst zu überlassen, wie die Konstitution neuer oder modifizierter Grenzen ein naturwüchsiger Prozess sein sollte. Die Meinungsbildung und letztlich Entscheidungsfindung über modifizierte oder neue Grenzen des Handelns (vor allem angesichts der Möglichkeiten der technischen Verbesserung des Menschen, aber nicht nur dort) liegen in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft mit ihren dafür vorgesehenen legitimierten Verfahren und Institutionen. Technikfolgenabschätzung ist unter Einbeziehung ethischer Reflexion als rationale, forschungsgestützte und wissenschaftlich orientierte Analyse und Reflexion gefragt, diese Verfahren und Institutionen mit den ihr zur Verfügung stehenden spezifischen Mitteln zu beraten.

Das ist notwendig, reicht aber nicht aus. Hinzukommen muss in der modernen Gesellschaft eine öffentliche Debatte, denn hier geht es um die Zukunft der ganzen Gesellschaft. Intellektuelles und öffentliches Engagement sind gefordert, um herauszufinden, in welche Richtung die nächsten Schritte im Verhältnis von Mensch und Technik zu gehen sind, was dabei als Chancen gesehen wird, aber auch welche Entwicklungen zu vermeiden sind. Es bedarf der Reflexion von Veränderungen in den Verhältnissen zwischen Mensch und Technik – und der öffentlichen Debatte darüber. Als ein Beitrag wie als Ermunterung zu einer solchen Debatte versteht sich auch der vorliegende Sammelband.

2.5    Fragen nach der Zukunft des Menschen

Aus den genannten Visionen der technischen Verbesserung des Menschen spricht ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus in Bezug auf Wissenschaft und Technik. Manche Visionäre erwarten vom nanotechnologischen Fortschritt und den konvergierenden Technologien schlicht die Lösung aller Weltprobleme. Allerdings gibt es auch Gegenstimmen. So könnte der vermeintlich ultimative Triumph des nanotechnologisch operierenden Homo faber zu einem finalen Pyrrhus-Sieg werden. In der Folge des berühmt gewordenen Essays von Bill Joy Why the Future Doesn’t Need Us wurde eine apokalyptische Dimension aufgedeckt. Ausgangspunkt waren Sorgen, dass sich selbst replizierende Nanoroboter auf der Basis molekularer Assembler eines Tages außer Kontrolle geraten könnten. Die Menschheit könnte so zur Beute ihrer eigenen technischen Leistungen werden. Statt menschlich gesetzten Zwecken zu dienen, könnten die Nano-Roboter sich selbständig machen und die Kontrolle über den Planeten Erde übernehmen. Eine technische Zivilisation wäre dann auf den Menschen nicht mehr angewiesen.

Ob der weitere technische Fortschritt das Ende des Menschen oder seine Perfektionierung bringen wird, oder ob gar das Ende des Menschen in seiner technischen Perfektionierung besteht, sind in gewisser Weise müßige Fragen. Weder können wir das heute wissen, noch sind Entscheidungen darüber zu treffen. Gleichwohl schwingen dabei Fragen mit, die bereits hier und jetzt bedeutsam sind: nach dem Selbstverständnis des Menschen, nach seiner Natürlichkeit, seinem Verhältnis zu Technik einerseits und Natur andererseits, nach seinen Entwicklungsmöglichkeiten und seinen entsprechenden Befürchtungen und Hoffnungen. Wie in einem Brennglas werden diese Fragen in der aktuellen Debatte über die technische Verbesserung des Menschen gebündelt. Und die Antworten auf diese Fragen haben Folgen, zum Beispiel für die Agenda der Wissenschaften.

Angesichts der visionären Natur der Aussichten auf eine technische Verbesserung des Menschen und der längeren bis langen Zeiträume, in denen mit der Realisierung bestimmter Teilschritte zu rechnen ist, besteht aller Voraussicht nach genügend Zeit, sich mit den aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen. Die Gelegenheit ist günstig, dass im Feld der technischen Verbesserung des Menschen Reflexion und gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht zu spät kommen, sondern die wissenschaftlich-technische Entwicklung kritisch begleiten und dadurch mitgestalten können. Im Zentrum dieser Reflexion steht das Verhältnis von Mensch und Technik, was nach dem Gesagten immer auch ein Teil des menschlichen Selbstverhältnisses ist. Die Texte dieses Buches durchzieht denn auch beides: die Abgrenzung des Menschen vom Technischen wie der Ausblick auf neuartige Formen der Koexistenz beider Sphären. In diesem Sinne ist jeder der hier versammelten Essays auch ein Beitrag zur Selbstvergewisserung des Menschen am Vorabend seiner technischen Evolution.

Anmerkungen:

(1)   Vgl. eine Äußerung des französischen Anthropologen Claude Lévy-Strauss: »Wir müssen wissen und anerkennen, dass alles, was uns wichtig und wesentlich erscheint, wofür wir kämpfen, woran wir glauben – das alles hat nur auf einer gewissen Ebene der Betrachtung einen Sinn. Dass es, wenn wir uns nur als Zusammensetzung von Molekülen und Atomen beobachten können, keinen Sinn mehr ergibt.« (Radio-Interview mit Jürg Altwegg aus dem Jahre 1989, abgedruckt in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.11.2009, S. 32.)

(2)   Zur Frage nach der Natur des Menschen vgl. Abschnitt 2.4.

(3)   Dazu ausführlich unten, Abschnitt 2.3.

(4)   Vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Veröffentlichungen des Büros zur Nanotechnologie, zur NBIC-Konvergenz, zur Hirnforschung, zum Gendoping und zum pharmakologischen Enhancement.

(5)   So leitete das ITAS 2008/09 ein Projekt des EU-Parlamentsausschusses für die Bewertung neuer Technologien (STOA), im Zuge dessen das »Human Enhancement« umfassend untersucht wurde. An weiteren STOA-Projekten, welche die Visionen und Technologien einer »Verbesserung des Menschen« thematisieren (z. B. das Projekt »Making Perfect Life«), ist das ITAS beteiligt. Auch in den von der EU-Kommission geförderten Projekten CONTECS (2006–2008), KNOWLEDGE NBIC (2006–2009) und EPOCH (2010–2012) wurden bzw. werden die konvergierenden Technologien und das »Human Enhancement« unter maßgeblicher Beteiligung des ITAS analysiert und bewertet (Hinweise von Christopher Coenen und Michael Decker, ITAS).

(6)   K. Eric Drexler: Engines of Creation – The Coming Era of Nanotechnology, Oxford 1986, S. 80.

(7)   William S. Bainbridge, Mihail C. Roco (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance, Arlington 2002, S. 16.

Karlsruhe, im Dezember 2011

Armin Grunwald
Justus von Hartlieb

 

Erstellt am: 06.07.2012 - Kommentare an: webmaster