Leonhard Hennen, Reinhard Grünwald, Christoph Revermann, Arnold Sauter

Einsichten und Eingriffe in das Gehirn
Die Herausforderung der Gesellschaft durch die Neurowissenschaften

Berlin: edition sigma 2008, Reihe: Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung, Bd. 24, ISBN 978-3-8360-8124-5, 208 Seiten, kartoniert 18.90 Euro
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EINLEITUNG

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THEMATISCHER HINTERGRUND

Die Hirnforschung und die Neurowissenschaften allgemein repräsentieren Forschungsfelder, die in den letzten Jahren enorme Fortschritte in der Grundlagenforschung zu verzeichnen haben und hinsichtlich möglicher Anwendungen z. B. im medizinischen Bereich ein großes Potenzial aufweisen. Die Fortschritte im Verständnis von Hirnfunktionen wie auch die Anwendungspotenziale resultieren aus der Verknüpfung von Erkenntnissen und Verfahren aus einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen und Technologiefelder, wie z. B. der Molekularbiologie und der Informationstechnologien. In den letzten Jahren sind es vor allem bildgebende Verfahren sowie gentechnische Ansätze und die Zusammenarbeit mit den Informations- und Computerwissenschaften, von denen man sich ein verbessertes Verständnis der Hirnfunktionen erhofft. Die Ziele und Gegenstände der Grundlagenforschung wie auch der - insbesondere medizinischen - anwendungsorientierten Forschung sind breitgefächert und umfassen z. B. die zerebrale Repräsentation von assoziativem Lernen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sensomotorik und Sprache, die Aufklärung zellulärer und molekularer Mechanismen des Alterungsprozesses im Gehirn, experimentelle und klinische Untersuchungen zur Analyse der synaptischen Vorgänge bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen oder die Charakterisierung von Hirntumoren mit radioaktiv markierten Molekülen.

Es sind vor allem die sich durch Fortschritte der Neurowissenschaften eröffnenden Perspektiven für die Behandlung von neurodegenerativen und psychischen Erkrankungen, die von gesellschaftlicher Relevanz und auch Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit sind. Daneben finden zunehmend aber auch die Möglichkeiten der Herstellung von Gehirn-Maschine- bzw. Mensch-Maschine-Schnittstellen Beachtung, die für behinderte Menschen vielversprechende Perspektiven des technischen Ersatzes oder der technischen Unterstützung sensorischer, motorischer und kognitiver menschlicher Fähigkeiten eröffnen. Weniger in der allgemeinen Öffentlichkeit, jedoch vermehrt in forschungspolitischen Expertenkreisen, wird die mit letzteren Möglichkeiten sich eröffnende Perspektive der potenziellen Erweiterung menschlicher Fähigkeiten diskutiert. Nicht zuletzt ist es auch die Grundlagenforschung, die die Neurowissenschaften zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit gemacht hat. Aus der Forschung zum Verständnis der neuronalen Realisierung mentaler Leistungen abgeleitete Thesen zum Verhältnis von Gehirn und Geist, die eine Revision unseres Selbstverständnisses als verantwortlich, von unserem (freien) Willen geleitete Handelnde nahezulegen scheinen, haben Diskussionen zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern ausgelöst, die zeitweise breite Resonanz auch in den Massenmedien gefunden haben.

ZIELSETZUNG UND ZUSCHNITT DES PROJEKTS

Das Themenfeld der Neurowissenschaften bietet somit unter TA-Gesichtspunkten umfangreichen Untersuchungs- und Handlungsbedarf, der in mittelfristiger Perspektive womöglich ähnliches Gewicht erlangen könnte wie schon zuvor in der Bio-, Nano- oder IuK-Technologie. Vor diesem Hintergrund hat das TAB im Frühjahr 2005 auf Beschluss des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung mit der Durchführung einer Studie zum Thema Hirnforschung begonnen, die mit dem vorliegenden Bericht abgeschlossen wird. Ziel war zum einen die Erhebung des Standes und der Perspektiven der Forschung, zum anderen eine möglichst umfassende Bewertung der aus der Aufklärung der Funktionsweise des menschlichen Gehirns und der Koppelung solcher Erkenntnisse mit anderen Feldern der wissenschaftlichen Forschung und der technologischen Entwicklung sich ergebenden Anwendungsmöglichkeiten sowie schließlich der damit möglicherweise verbundenen gesellschaftlichen Folgen.

Angesichts der Vielfalt der zu untersuchenden Anwendungsmöglichkeiten, aber auch der breitgefächerten und verschiedene Disziplinen integrierenden Forschungsaktivitäten entschied sich das TAB dafür, einen Überblick zum Stand der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung und zu ausgewählten Fragen und Anwendungsfeldern mit besonderer gesellschaftlicher Relevanz zu erarbeiten. Als Untersuchungsschwerpunkte wurden festgelegt:

Die im Rahmen des TAB-Projekts vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung durchgeführten Recherchen (FhG-ISI 2005b) zu international laufenden Förderprogrammen und Schwerpunkten der neurowissenschaftlichen Forschung wurden im Frühjahr 2006 abgeschlossen und separat als TAB-Hintergrundpapier Nr. 15 veröffentlicht (TAB 2006a). Die Recherchen bestätigten den disziplinenübergreifenden Charakter der neurowissenschaftlichen Forschung und Entwicklung, der u. a. darin zum Ausdruck kommt, dass sich neurowissenschaftliche Förderschwerpunkte in einer Vielzahl von staatlichen FuE-Förderprogrammen aus dem Bereich der Medizin, der Informatik oder der Physik finden. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt verständlicherweise im Bereich der medizinischen Forschung (insbesondere bezogen auf Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Schizophrenie). Insgesamt ist besonders bei der anwendungsbezogenen Forschung eine Tendenz zur interdisziplinären Zusammenarbeit festzustellen. Zumindest wird diese von den verfolgten Fragestellungen - z. B. in der an der Schnittstelle von Informatik und Hirnforschung arbeitenden "Computational Neuroscience" - nahegelegt oder ergibt sich durch die Anwendung von neuen technikgestützten Methoden in der Forschung. Schritte zu einer Institutionalisierung interdisziplinärer Forschung lassen sich vereinzelt, wie z. B. im Falle der deutschen Bernstein-Zentren für "Computational Neuroscience", feststellen. Über die besondere Bedeutung der im weiteren Sinne medizinischen Forschung hinaus fällt es schwer, beim gegenwärtigen Stand der neurowissenschaftlichen Forschung besondere Schwerpunkte bezüglich der Themen und Fragestellungen festzumachen. Auch ein Vergleich verschiedener nationaler und internationaler Förderprogramme erbrachte keine Hinweise auf spezielle Schwerpunkte der Förderung. Breit gefördert werden sowohl Fragestellungen der Grundlagenforschung als auch der anwendungsbezogenen Forschung, wobei die deutsche neurowissenschaftliche Forschung im internationalen Vergleich als durchaus gut positioniert gelten kann (TAB 2006a).

Die für den vorliegenden Bericht gewählten Themenfelder decken zum einen in der Breite der jeweils angesprochenen Fragestellungen einen Großteil der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschungsaktivitäten ab (ohne dass der Anspruch erhoben wird, diese vollständig erfasst zu haben). Sie stellen zum anderen aber auch Gebiete dar, die aus unterschiedlichen Gründen von besonderem öffentlichen Interesse sind. Dies trifft einerseits auf die medizinische Forschung sowohl zu den Ursachen und Heilungsmöglichkeiten bei psychischen und neurologischen Erkrankungen (Kap. VI) als auch auf die Möglichkeiten der Neuroprothetik (Kap. V) zu. Dies betrifft aber auch die Frage nach der Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für das Verständnis menschlicher Lernvorgänge und die Möglichkeiten ihrer methodisch-didaktischen Unterstützung, die in letzter Zeit insbesondere durch Diskussionen zum "lebenslangen Lernen" öffentliche Aufmerksamkeit gefunden haben (Kap. IV). Dies gilt nicht zuletzt auch für den Stand der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung zum Verständnis der menschlichen Bewusstseinsprozesse (Kap. II) - einerseits, da Fortschritte der Forschung für unser Menschenbild und unser kulturelles Selbstverständnis von Bedeutung sind, und andererseits, da sich hieraus konkrete Fragen nach Freiheit und Verantwortung menschlichen Handelns ergeben, die in den vergangenen Jahren auch in der Öffentlichkeit recht intensiv diskutiert worden sind (Kap. III). Im abschließenden Kapitel VII wird der Versuch unternommen, die gesellschaftliche Relevanz der Neurowissenschaften bzw. ihre manifesten und potenziellen gesellschaftlichen Folgen zusammenfassend zu bewerten, um hieraus Schlussfolgerungen im Hinblick auf sich ergebenden weiteren Untersuchungsbedarf zu ziehen.

IN AUFTRAG GEGEBENE GUTACHTEN

Der vorliegende Bericht beruht in großen Teilen auf folgenden Gutachten, die im Rahmen des Projekts vergeben wurden:

Den Gutachterinnen und Gutachtern sei an dieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit gedankt. Den im laufenden Text enthaltenen Verweisen kann entnommen werden, welche Passagen sich schwerpunktmäßig auf welche Gutachten stützen. Ein herzlicher Dank geht auch an die Expertinnen und Experten, die in diversen Gesprächen und Diskussionsrunden zum Gelingen des Projekts beigetragen haben, an Christopher Coenen vom TAB für Beratung und Unterstützung in Fragen der "Converging Technologies", an Ulrike Goelsdorf und Gaby Rastätter für die Erstellung des Endlayouts des Berichts sowie an Jördis Alex für die Unterstützung bei der Zusammenfassung der philosophischen Diskussion zum Thema "Geist und Gehirn".

Erstellt am: 02.04.2008 - Kommentare an: webmaster