Armin Grunwald, Jürgen Kopfmüller

Nachhaltigkeit

Frankfurt/Main, New York: campus 2006, Reihe: Einführungen, ISBN 3-593-37978-3, 190 Seiten, 12,90 Euro
[Inhalt]


Einleitung

Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) hat sich in den letzten zwanzig Jahren weltweit zu dem zentralen Begriff entwickelt, anhand dessen über die zukünftige Entwicklung der Menschheit diskutiert wird. Es bezeichnet einen Prozess gesellschaftlicher Veränderung, während der Begriff der Nachhaltigkeit (sustainability) das Ende eines solchen Prozesses, also einen Zustand beschreibt. In dieser Einführung werden wir vorwiegend den Begriff nachhaltige Entwicklung verwenden. Nach der heute überwiegend akzeptierten Definition ist nachhaltige Entwicklung dann realisiert, wenn sie

„die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987: 46).

Sie zielt auf eine Umsteuerung, die die Lebenssituation der heutigen Generation verbessert (Entwicklung) und gleichzeitig die Lebenschancen künftiger Generationen nicht gefährdet (Erhalt der sozialen, wirtschaftlichen und natürlichen Grundlagen der Gesellschaft). Nachhaltige Entwicklung ist kein ausschließlich wissenschaftlich bestimmbarer Begriff, sondern ein gesellschaftlich-politisches und damit normatives Leitbild.

 
Nachhaltige Entwicklung hat in ethischer Hinsicht ein doppeltes Fundament: Einerseits betrifft sie die aktive Übernahme von Verantwortung für zukünftige Generationen (Zukunftsverantwortung), andererseits spielen Gerechtigkeitsüberlegungen unter den heute Lebenden (Verteilungsgerechtigkeit) ebenfalls eine tragende Rolle. Diese Situation hat Folgen: Ein begriffliches Doppelverständnis zieht sich durch sämtliche Diskussionen zur nachhaltigen Entwicklung hindurch. Zum einen geht es um eine – eher statische – Erhaltung von natürlichen und kulturellen Ressourcen im Interesse zukünftiger Generationen. Zum anderen steht – dynamisch – die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft im Mittelpunkt, mit der Betonung auf dem Entwicklungsgedanken zur Verbesserung der Situation vieler heute lebender Menschen. Gerechtigkeit
als ethisches
Fundament
Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ist auf der politischen Ebene zumindest programmatisch weltweit anerkannt. Die Suche nach Kriterien, Leitlinien und Umsetzungsstrategien für eine nachhaltige Entwicklung ist zu einem zentralen Thema der nationalen und internationalen Umwelt-, Forschungs- und Entwicklungspolitik sowie von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft geworden. Auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro verpflichtete sich die internationale Staatengemeinschaft, das Leitbild in konkrete Politik auf nationaler und globaler Ebene umzusetzen. Nationale Nachhaltigkeitsstrategien sind mittlerweile in vielen Ländern ausgearbeitet worden und befinden sich in der Umsetzung. In Deutschland wurde 2001 durch die Bundesregierung ein Rat für Nachhaltige Entwicklung berufen (www.nachhaltigkeitsrat.de). Im Jahre 2002 wurde die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie veröffentlicht (Bundesregierung 2002). Auf regionaler und lokaler Ebene wurde seit 1992 weltweit eine Fülle von Lokalen Agenda 21-Initiativen durchgeführt. Globale
Bedeutung
Auch in der Wirtschaft hat das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung Fuß gefasst (Fussler 1999). Viele Unternehmen haben entsprechende Strategien und Geschäftsmodelle entwickelt und sich einem Unternehmensethos der Nachhaltigkeit verpflichtet. Zur internationalen Koordination wurde der World Business Council of Sustainable Development (WBCSD) gegründet (www.wbcsd.org). Gewerkschaften betonen die soziale Dimension der nachhaltigen Entwicklung und die zentrale Rolle der Arbeit sowie die Problematik der Chancengleichheit und der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes. Wirtschaft
Parallel dazu dient das Leitbild auch in vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen als Orientierung. Global arbeitende Nichtregierungsorganisationen betätigen sich als Warner und Mahner, genauso wie sich auf regionaler und lokaler Ebene Bürgerinitiativen und Einzelpersonen engagieren. Teilweise wird mit dem Nachhaltigkeitsleitbild auch an frühere sozialistische Kritik am Kapitalismus sowie an aktuelle Argumente der Globalisierungskritiker angeknüpft. Beispielsweise hat sich als Gegengewicht zum Weltwirtschaftsforum in Davos ein Weltsozialforum etabliert. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung ist damit paradoxerweise einerseits ohne Globalisierung kaum denkbar, denn sonst wäre das Interesse für die Entwicklung der Menschheit als ganzer nicht entstanden. Andererseits wird vor dem Hintergrund der Kritik an bestimmten Formen und Folgen der Globalisierung versucht, nachhaltige Entwicklung trotz Globalisierung auf den Weg zu bringen (Douthwaite 1996, Hey / Schleicher-Tappeser 1998, Petschow et al. 1998). Zivil-
gesellschaft
Auch kirchliche Gruppen sind weltweit für eine nachhaltige Entwicklung engagiert. In religiös motivierten Ansätzen findet sich die Dualität der Nachhaltigkeit wieder. Sie wird zum einen als „Bewahrung der Schöpfung“ verstanden, zum anderen stehen die Vision einer gerechten Weltordnung und der Entwicklungsgedanke im Mittelpunkt, wie sie etwa der Idee eines „Weltethos“, einer verbindenden normativen Ebene zwischen den Weltreligionen (Küng 1990) oder der katholischen Soziallehre entsprechen (Hengsbach 2000). Auch in den anderen Weltreligionen wie Buddhismus und Islam wird über nachhaltige Entwicklung nachgedacht.

Dass dieser Begriff in so kurzer Zeit zentral für viele, vormals getrennt laufende Debatten rund um den Globus geworden ist, ist auf den ersten Blick erstaunlich. Ein wesentlicher Grund für diese Begriffskarriere dürfte darin liegen, dass das Leitbild auf problematische Entwicklungstrends der Weltgesellschaft Bezug nimmt. Im Nachhaltigkeitsbegriff drücken sich einerseits die Sorgen vieler Menschen um die zukünftige Entwicklung im globalen Maßstab aus. Andererseits steht nachhaltige Entwicklung gleichzeitig als ein normatives Leitbild auch konstruktiv für Bemühungen um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Damit bietet das Leitbild die Gelegenheit, das Unbehagen im Sinne eines „so kann es nicht unbegrenzt weitergehen“ auf den Punkt zu bringen und gleichzeitig nach Möglichkeiten der Umsteuerung zu suchen. Hier zeigt sich eine zweite Dualität des Leitbilds: Zum einen stellt es eine Reaktion auf bestehende Probleme dar, zu denen die globale Umwelt- und Entwicklungsproblematik genauso gehören wie Arbeitslosigkeit und Armut. Zum anderen wirft die Bewältigung dieser Probleme unausweichlich Fragen nach gesellschaftlichen Zielvorstellungen und Visionen für die Zukunft auf. In diesem Kontext werden in der Nachhaltigkeitsdiskussion auch positive Zukunftsentwürfe einer gerechten Gesellschaft und des „guten Lebens“ behandelt.

Kirchen
Die Problemorientierung als eine wesentliche Motivation der Nachhaltigkeitsdiskussion wird aus vielen Quellen gespeist. Hierzu gehören – und diese werden in den industrialisierten Ländern am häufigsten thematisiert – globale Ressourcen- und Umweltprobleme. Auf die Endlichkeit und absehbare Erschöpfung vieler für die Industriegesellschaft lebenswichtiger Rohstoffe, beispielsweise der fossilen Energieträger, auf den Klimawandel und seine anthropogene Komponente, die Gefährdung der langfristigen Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser, die Verschmutzung der Ozeane und den sukzessiven Verlust von Böden oder ihrer Fruchtbarkeit wird immer wieder hingewiesen. Die Belastbarkeit der natürlichen Umwelt wird zunehmend als begrenzt wahrgenommen.

Soziale Probleme wie Hunger, Armut, Bevölkerungszunahme, Migration und Perspektivlosigkeit von Teilen der „Dritten Welt“ bilden die zweite große – und vor allem in den Entwicklungsländern mit nachhaltiger Entwicklung verbundene – Problemgruppe. Vielfach werden globale Umweltprobleme und globale soziale Probleme unter dem Begriff Globaler Wandel zusammengefasst (WBGU 1996, Kopfmüller 2003). Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele dieser Probleme sich wechselseitig beeinflussen. Auch Arbeitslosigkeit, Bildungsdefizite, die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, Staatsverschuldung, Folgen der Globalisierung, die Rolle der internationalen Finanzmärkte, Chancengleichheit, Probleme regionaler Identitäten und Kulturen werden unter Nachhaltigkeitsaspekten thematisiert.

Globaler
Wandel
Nachhaltige Entwicklung betrifft damit das Verhältnis von menschlicher Wirtschaftsweise, den sozialen Grundlagen einer Gesellschaft und den verfügbaren natürlichen Ressourcen auf globaler Ebene. Mit dem Leitbild ist somit eine Gestaltungsaufgabe in einer Komplexität verbunden, die einmalig in der Menschheitsgeschichte ist: Die Menschheit bzw. Weltgesellschaft „als Ganzes“ wird zum Objekt von bewusster Gestaltung. In diesem Rahmen sind Steuerungsleistungen auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene erforderlich. Die jeweiligen Akteure sind dabei konfrontiert mit der Ungewissheit und Unvollständigkeit des Wissens über die komplexen Nachhaltigkeitsprobleme, mit dem Vorliegen teils unvereinbarer und von verschiedenen Interessen dominierter Bewertungen, mit der Begrenztheit ihrer Steuerungsfähigkeit sowie mit der Vielfalt und Konfliktträchtigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit. Gestaltungs-
erfordernis
Die Umsetzung der Nachhaltigkeitsidee ist auf umfangreiches Wissen angewiesen. Die Wissenschaften sind gefordert, zur Konkretisierung von Nachhaltigkeit, zur Diagnose von Nachhaltigkeitsproblemen und zur Entwicklung geeigneter Therapien beizutragen. Nachhaltige Entwicklung ist bereits Thema in vielen Studiengängen an Universitäten und Fachhochschulen und gehört zum festen Inventar nationaler,europäischer und internationaler Forschungsprogramme. Darüber hinaus gibt es weitergehende Bestrebungen, die verschiedenen Perspektiven und Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft im Sinne einer „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ (science for sustainability) inter- und transdisziplinär zu bündeln. Wissen
Der Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung stellt einen ethisch orientierten Such-, Lern- und Erfahrungsprozess dar. Das Vorliegen nur lückenhaften Wissens und provisorischer Bewertungen liefert allerdings angesichts der realen Problemlagen keinen Grund, nachhaltigkeitswirksames Handeln zurückzustellen. Handeln ist auch ohne vollständiges und sicheres Wissen möglich – und oft aus Vorsorgegedanken heraus auch nötig. Die Bewältigung dieser Herausforderungen – in so konkreten Bereichen wie Energie, Mobilität, Klimaschutz, kommunaler Planung, Zukunft der Sozialversicherungssysteme, demografischer Wandel oder Landwirtschaft – erfordert allerdings neue und zum Teil tiefgreifende Maßnahmen sowie veränderte Denkweisen, die sich zum Teil erst in Umrissen abzeichnen und häufig noch ausgesprochen kontrovers sind. Handeln
unter
Unsicherheit
Mit der erstaunlichen Begriffskarriere des Nachhaltigkeitsleitbildes ist gleichzeitig die verfügbare Literatur zum Thema stark angewachsen. An Büchern zu einzelnen Aspekten der Nachhaltigkeit (etwa in den Bereichen Wohnen/Bauen, Mobilität oder Energie) besteht genauso wenig ein Mangel wie an theoretischen Darstellungen von Nachhaltigkeitskonzepten. Dieses reichhaltige Informationsangebot ist in der Regel auf Fach- und Expertenkreise zugeschnitten. Der Tatsache, dass das Thema der nachhaltigen Entwicklung in den letzten Jahren jedoch weit über den wissenschaftlichen Raum hinaus an Bedeutung gewonnen hat, ist der Bedarf an einer umfassenden, gleichwohl knappen Einführung geschuldet. Vielzahl an
Literatur


Das vorliegende Buch folgt im Wesentlichen der Idee, dass das Leitbild nachhaltiger Entwicklung sowohl die Formulierung von Entwicklungszielen als auch die Diagnose von Problemen erfordert. Vor diesem Hintergrund geht es darum, über verschiedene Stufen der Konkretisierung und Umsetzung zu einer Lösung dieser Probleme angesichts der gesetzten Ziele zu gelangen. Die Darstellung der Motivationen, über nachhaltige Entwicklung nachzudenken, erfolgt im Spiegel der geschichtlichen Entwicklungen, die diesen Begriff in seiner heutigen Form geprägt haben (Kap. 2). Dabei haben sich ethische Grundlagen genauso herausgebildet wie Anforderungen an die praktische Umsetzbarkeit (Kap. 3). Die Umsetzung selbst bedarf einer Reihe von Schritten, deren Gesamtheit als Operationalisierung bezeichnet wird. Am Anfang stehen konzeptionelle Grundentscheidungen, etwa im Hinblick auf die Gewichtung der Erhaltung der natürlichen Umwelt relativ zu anderen Entwicklungsaspekten (Kap. 4). Dem Brückenschlag in die konkrete Praxis hinein dient der Schritt, durch Indikatoren nachhaltige Entwicklung „messbar“ zu machen und darauf Strategien einer Annäherung an Nachhaltigkeit aufzubauen (Kap. 5). Besonderes Gewicht haben Überlegungen und Maßnahmen zu einer nachhaltigen Entwicklung in den zentralen gesellschaftlichen Bedürfnisfeldern wie Energie, Ernährung oder Wasser (Kap. 6). Nachhaltige Entwicklung als hoch komplexe Gestaltungsaufgabe bedarf des engagierten Einsatzes und der Zusammenarbeit vieler gesellschaftlicher Akteure (Kap. 7) und des abgestimmten Vorgehens auf den verschiedenen politischen Ebenen (Kap. 8). In allen Schritten von der Diagnose bis hin zur Therapie von Nachhaltigkeitsdefiziten spielt die Bereitstellung von Wissen und technischen, institutionellen sowie sozialen Innovationen eine große Rolle (Kap. 9). Für die Präzisierung und Umsetzung des Nachhaltigkeitsleitbildes ist die öffentliche Wahrnehmung bedeutsam, wobei durchaus unterschiedliche Akzentuierungen in interkultureller Perspektive bestehen (Kap. 10). Die Einführung schließt mit zehn Thesen, die auf die gegenwärtige Situation und die aus unserer Sicht erforderlichen nächsten Schritte zugespitzt sind (Kap. 11). Aufbau des
Buches


Erstellt am: 19.06.2006 - Kommentare an: webmaster