Technikfolgenabschätzung - eine Einführung

Armin Grunwald
Berlin: Edition Sigma, 2002 (Gesellschaft - Technik - Umwelt, Neue Folge 1), ISBN: 3-89404-931-6, 319 Seiten, 24,90 Euro


Vorwort Buchcover

Einführung und Überblick

Der Begriff des "technology assessment" (TA), im Deutschen zumeist übersetzt mit "Technikfolgenabschätzung", ist in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geprägt worden. Entstanden in den USA, in einer sehr spezifischen Konstellation parlamentarischer Beratungen über Technik, fand er in den siebziger Jahren Eingang in die europäischen Debatten über Technik und in entsprechende Forschungs- und Beratungsaktivitäten. Die achtziger und neunziger Jahre führten zu einer Ausweitung der Technikfolgenabschätzung im wissenschaftlichen, politischen und öffentlichen Raum und zu einer Festigung der institutionellen Basis.

Trotz dieser jahrzehntelangen Geschichte ist eine einführende Gesamtdarstellung der Technikfolgenabschätzung bislang nicht verfügbar. Die vorhandene Literatur besteht zu einem großen Teil entweder aus umfangreichen, teils mehrbändigen Randbüchern (Albach et al. 1991; Bröchler et al. 1999; Westphalen 1997) oder aus verstreuten Beiträgen in Sammelbänden und Konferenzberichten. Diese Darstellungen sind einerseits oft schwer zugänglich, nur in begrenzten Auflagen gedruckt oder gar nicht mehr aufzufinden. Andererseits, und dies wiegt noch schwerer, sind diese Beiträge in der Regel für die Diskussion innerhalb der Technikfolgenabschätzung geschrieben; d. h., sie sind häufig genug für Außenstehende schwer verständlich, ausgesprochen heterogen, sie stehen teilweise in Widerspruch zueinander, sind redundant und verwirrend.

Diese Situation mag damit zu tun haben, dass Technikfolgenabschätzung eben keine wissenschaftliche Disziplin darstellt, die ganz selbstverständlich über einführende Literatur verfügt wie die Theoretische Festkörperphysik, die Staatsphilosophie oder die Betriebswirtschaftslehre. Einführungen dieser Art bilden nicht nur ein Element der universitären Ausbildung, sondern dienen auch der Selbstreflexion über den erreichten "Stand von Wissenschaft und Forschung" in den betreffenden Fächern. In einer Einführung in ein Themengebiet ist das enthalten, was im Konsens der Wissenschaftler als erreichter und damit auch nach außen darstellbarer und an den wissenschaftlichen Nachwuchs weiterzugebender Stand anerkannt ist. In vielen zentralen Fragen der Technikfolgenabschätzung besteht jedoch kein Konsens, trotz der Tatsache, dass Technikfolgenabschätzung mittlerweile gesellschaftlich weitgehend anerkannt und institutionell stabilisiert ist. Worin die zentralen konzeptionellen, methodischen und wissenschaftlichen Elemente von Technikfolgenabschätzung bestehen und wie sie politisch und gesellschaftlich umgesetzt werden sollen, ist immer noch kontrovers. Die interne Konsolidierung der Technikfolgenabschätzung könnte, so mag es scheinen, notwendige Voraussetzung dafür sein, überhaupt eine Einführung schreiben zu können.

Auf der anderen Seite scheint ein Bedarf nach einer kompakten und verständlichen Darstellung der Technikfolgenabschätzung durchaus vorhanden zu sein. Dieser ergibt sich einerseits dadurch, dass Technikfolgenabschätzung in vielfältiger Weise mit ganz verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Kontakt kommt: als wissenschaftliche Aktivität mit den betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen, als Informationsangebot an die interessierte Öffentlichkeit mit Medien und Journalisten, als Beratungsangebot an politische Entscheidungsträger mit den Adressaten dieser Beratung, durch ihren Technik- und Innovationsbezug mit Vertretern aus Industrie und Wirtschaft. Die Vielfalt dieser Adressaten macht den Bedarf nach einem über Berufs- und Disziplingrenzen hinweg verständlichen "Referenzdokument" deutlich.

Andererseits gibt es auch einen Bedarf nach einer Einführung, der aus der Technikfolgenabschätzung selbst kommt. Ganz offensichtlich ist hier zunächst der Aspekt von Aus- und Weiterbildung zu nennen. Sowohl im universitären Bereich als auch im betrieblichen Bereich werden verstärkt Erfahrungen aus der Technikfolgenabschätzung genutzt, um entweder Studenten entsprechende Kompetenzen zu vermitteln oder betriebliche Weiterentwicklungen hinsichtlich einer moderneren Behandlung der Schnittstelle zwischen Unternehmen, Gesellschaft und Öffentlichkeit zu ermöglichen. Weiterhin kann - dies ist die Hoffnung des Autors - eine Einführung auch dazu beitragen, die Konsolidierung im Selbstverständnis der Technikfolgenabschätzung voranzutreiben.

Die große Frage ist dann, wie mit der erwähnten Abwesenheit eines gemeinsamen Verständnisses in dieser einführenden Gesamtdarstellung umgegangen werden solle. Nach Meinung des Autors kommt hierfür nur ein beschreibender Zugang in Frage, der die verschiedenen Fragestellungen innerhalb der Technikfolgenabschätzung benennt und der die verschiedenen Antworten wiedergibt. Zwar ist auch ein solcher Zugang nicht wertneutral und kann nicht garantieren, dass all den verschiedenen Ansätzen und Positionen Gerechtigkeit widerfährt. Es muss oft eine Auswahl getroffen werden, Gewichtungen müssen vorgenommen und Zuordnungen gemacht werden, die immer auch problematisiert werden können, und in denen sich unvermeidlich persönliche Einschätzungen des Autors widerspiegeln. Hier kann nur verwiesen werden auf die korrigierende Kraft der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion in der Folge einer Veröffentlichung. Das letzte Wort hat auch in diesem Falle nicht der Autor, sondern der Leser.

Für die Darstellung der Technikfolgenabschätzung in diesem Buch wurde ein problemorientierter Ansatz gewählt. Am Anfang steht die Frage nach dem gesellschaftlichen Bedarf nach Technikfolgenabschätzung: worauf soll Technikfolgenabschätzung eine Antwort geben? Dies entspricht einerseits der historischen Wahrheit: Technikfolgenabschätzung wurde seitens des US-amerikanischen Parlamentes und der Öffentlichkeit nachgefragt und nicht aus den Wissenschaften heraus angeboten. Andererseits ermöglicht dieser Zugang eine Strukturierung, in der die verschiedenen Ansätze der Technikfolgenabschätzung als Antworten auf die aus gesellschaftlicher oder politischer Sicht gestellten Fragen aufgefasst werden können. Ausgehend von realen gesellschaftlichen Problemen mit Technik und Technisierung kann gefragt werden, was Technikfolgenabschätzung zur Lösung dieser Probleme beitragen kann, welche Möglichkeiten der Wissenschaften oder des politischen Systems genutzt werden können, welche Konzeptionen bislang für welche Zwecke entwickelt und eingesetzt wurden und wo die Grenzen dieser Lösungsmöglichkeiten liegen. Die implizite Definition von Technikfolgenabschätzung als Antwort(en) auf gesellschaftliche Bedarfs- und Problemlagen erlaubt es, die vielfältigen Facetten der Technikfolgenabschätzung als verschiedene Antworten auf verschiedene Aspekte der Problemlagen aufzufassen und zuzuordnen.

Der Ausgangspunkt (Teil I) besteht in einer Diagnose und Bewertung der Herausforderungen an Gesellschaft und Politik, die Technikentwicklung und -einsatz in der Moderne mit sich bringen. Einschlägige Stichworte sind die Nebenfolgenproblematik der Technik, technisch bedingte Risiken, Technikkonflikte, die Frage der politischen Steuerbarkeit von Technik, Legitimationsprobleme, Vertrauensverlust und Expertendilemmata (Kap. 1). Diese führen zu einem durchaus heterogenen Anforderungskatalog an wissenschaftliche, politische und andere gesellschaftliche Aktivitäten, welche als "Technikfolgenabschätzung" bezeichnet werden. Sie lassen sich in eine Reihe von Aufgabenfeldern der Technikfolgenabschätzung einteilen: Politikberatung, Frühwarnung und Früherkennung, Bewältigung oder Verhinderung von Technikkonflikten und die Ermöglichung gesellschaftlichen Lernens in Bezug auf Technik. Aus den Herausforderungen lassen sich ebenfalls eine Reihe von Anforderungen gewinnen, wie Technikfolgenabschätzung konkret durchzuführen ist und welchen Kriterien ihre Resultate genügen sollten (Kap. 2).

Vielfältige Antworten auf diese Herausforderungen sind in den über 30 Jahren der Geschichte der Technikfolgenabschätzung in den theoretischen Konzepten und praktischen Umsetzungen gegeben worden (Teil 11). Zunächst ist ein Hinweis auf die verschiedenen Bezeichnungsweisen für Technikfolgenabschätzung oder ähnliche Aktivitäten angebracht, die während dieser Entwicklung verwendet worden sind oder noch verwendet werden, meist in der Absicht, bestimmte programmatische Akzente zu setzen (Kap. 3). Die Geschichte der Technikfolgenabschätzung ist zum einen eine Geschichte ihrer Institutionen in Politikberatung in Legislative und Exekutive, in der Beteiligung der Öffentlichkeit an Technikdiskussionen und Entscheidungen, in der Behandlung dieser Fragen durch Verbände und Unternehmen sowie in Forschung und Bildung (Kap. 4). Zum anderen äußert sich die Entwicklung der Technikfolgenabschätzung - eher ideengeschichtlich - in spezifischen Konzeptionen. Die Geschichte der Technikfolgenabschätzung ist auch eine Geschichte ihrer Konzeptionen, in denen das Verhältnis von Technik, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit sowie das Verhältnis einer Gesellschaft zu ihrer Zukunft auf je verschiedene Weise gedacht wird (Kap. 5).

Insofern es in der Technikfolgenabschätzung immer auch darum geht, neues Wissen zu erhalten bzw. Wissen für bestimmte Fragestellungen zu sammeln und zu integrieren, bedarf Technikfolgenabschätzung einer Forschungsmethodik (Teil III). Es gibt eine Reihe von Ansätzen, idealtypisch die Struktur von TA-Studien oder TA-Prozessen vorzugeben, um bestimmten methodischen Anforderungen Genüge zu tun (Kap. 6). Der Anfangs- und Auslegungsphase in TA-Projekten kommt besondere Bedeutung zu (Kap. 7). Die genaue Klärung der Problemstellung, die Eingrenzung des Gegenstandsbereiches und die Festlegung des methodischen Zuschnitts sind von zentraler Bedeutung, um durch Technikfolgenabschätzung nicht "Antworten auf nicht gestellte Fragen" zu geben. Methodische Probleme im engeren Sinne stellen sich insbesondere im Hinblick auf Prognosen, Bewertungen und die Erarbeitung von Handlungsoptionen (Kap. 8). Der Zukunftsbezug ist für Technikfolgenabschätzung konstitutiv; daher muss sie Konzepte und Methoden für den Umgang mit Zukunftsfragen entwickeln bzw. anwenden. In seiner Bedeutung ebenso unumstrittenes methodisches Kernelement von Technikfolgenabschätzung besteht in Bewertungen - sei es im Verlaufe eines TA-Projektes selbst oder sei es die Bewertung von Technikfolgen, Szenarien oder Handlungsoptionen am Ende eines Projektes. Weiterhin enthält Technikfolgenabschätzung stets einen Handlungsaspekt und zielt auf gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse oder Entscheidungen über Technik. Die "Botschaft" von Technikfolgenabschätzung besteht darum häufig in der Bündelung des Technikfolgenwissens und seiner Bewertungen in Form von Handlungsoptionen oder Szenarien, die dann erlauben, die weitere Diskussion zu strukturieren bzw. die bestimmte Entscheidungspfade ermöglichen. Schließlich werden in der Technikfolgenabschätzung eine Reihe von Methoden aus anderen Disziplinen verwendet, die der Gewinnung von Expertenwissen, der Strukturierung von Argumentationslinien, der Prognose und der Bewertung dienen (Kap. 9).

Im letzten Teil des Buches wird nach dem Verhältnis der Technikfolgenabschätzung zum allgemeineren gesellschaftlichen Umfeld im Umgang mit der Technik gefragt (Teil IV). Ein immer wiederkehrendes Problem stellt die externe Wahrnehmung der Technikfolgenabschätzung dar. Einerseits schwankt diese zwischen Vorwürfen der Technikverhinderung und der Akzeptanzbeschaffung für Technik, beklagt andererseits jedoch die "Folgenlosigkeit der Folgenforschung" (Kap. 10). Letzteres betrifft die "Umsetzung" von Technikfolgenabschätzung in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Interessant ist weiterhin das Verhältnis von Technikfolgenabschätzung zum Wissenschaftssystem bzw. zu den klassischen wissenschaftlichen Disziplinen. Hier wird zum einen auf Technikfolgenabschätzung als "problemorientierte Forschung" und die damit verbundenen spezifischen Eigenschaften im Unterschied zu klassischen Disziplinen hingewiesen; zum anderen stellt sich die Frage, in welchem Sinne Technikfolgenabschätzung auf Ergebnisse anderer Disziplinen angewiesen ist oder davon profitieren kann (Kap. 11). In der aktuellen Diskussion zur Nachhaltigkeit (Kopfmüller et al. 2001) stellen sich besondere Anforderungen an Technikgestaltung und damit auch an Technikfolgenabschätzung (Kap. 12). Schließlich wird die Frage nach den Grenzen der Technikfolgenabschätzung, oder anders formuliert, die Frage nach berechtigten und unberechtigten Erwartungen an Technikfolgenabschätzung gestellt. Diese berührt die Fragen des Beitrags der Technikfolgenabschätzung zur rationalen Gestaltung von Technik, zur Demokratisierung von Technik und zur Vermeidung technisch bedingter Risiken (Kap. 13).

Der einführende Charakter dieses Buches und die Begrenzung des Umfanges auf ein handhabbares Format bringen es mit sich, dass nicht alle Aspekte und Fragen bis ins Detail behandelt werden können. So sind z. B. die Beschreibungen der TA-Verfahren und TA-Methoden nicht so ausgelegt, dass auf der Basis dieses Buches eine entsprechende Untersuchung unmittelbar in Angriff genommen werden könnte. Stattdessen wird jeweils auf detailliertere Fachliteratur verwiesen. Das Ziel des Buches ist vielmehr, einen allgemeinen Überblick über die Vielfalt innerhalb der Technikfolgenabschätzung zu geben und dem Leser zu erlauben, sich in dieser Vielfalt zurechtzufinden. Zu diesem Zweck wurden eine ganze Reihe von internen Querverweisen angebracht und Redundanzen nicht völlig eliminiert. Zur Orientierung des Lesers finden sich ein Stichwortverzeichnis und ein Abkürzungsverzeichnis am Ende des Buches.

Das vorliegende Buch baut auf langjährigen Diskussionen mit Kollegen und Kolleginnen aus der Technikfolgenabschätzung, aus dem politischen Bereich, der Wirtschaft und aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen auf. Gerade ein Unternehmen wie die Einführung in ein Themenfeld bedarf der vielfältigen Diskussion und der Kooperation. Allen explizit oder implizit Beteiligten möchte ich daher ganz herzlich danken. Besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse für hilfreiche Kritik und weiterführende Anmerkungen. Hervorgehoben sei die sorgfältige Durcharbeitung des Manuskriptentwurfs durch Klaus-Rainer Bräutigam und Bernd Wingert sowie einzelner Kapitel durch Gerhard Banse, Ingrid von Berg und Michael Rader. Frau Waltraud Laier gebührt besonderer Dank für die professionelle und rasche Gestaltung des Layouts.

Armin Grunwald
Karlsruhe, im März 2002




Stand: 18.09.2002 - Kommentare an:     Armin Grunwald