Brinckmann, Andrea

Wissenschaftliche Politikberatung in den 60er Jahren.
Die Studiengruppe für Systemforschung 1958 - 1975

Berlin: edition sigma 2006, Reihe: Gesellschaft - Technik - Umwelt, Neue Folge 9, ISBN 3-89404-939-1, 240 Seiten, 19,90 Euro
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Geleitwort

Technikfolgenabschätzung (technology assessment) ist in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren etabliert und institutionalisiert (etwa durch das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag oder die Richtlinie Grundlagen der Technikbewertung des Vereins Deutscher Ingenieure). Sie versteht sich sowohl als systemanalytisch ausgerichtetes wissenschaftliches Verfahren als auch als wissenschaftsgestützte Politikberatung. Eine wichtige Grundlage für die Institutionalisierung wie für die inhaltliche Ausrichtung der Technikfolgenabschätzung in Deutschland hat die Heidelberger „Studiengruppe für Systemforschung“ (SfS) gelegt, die in der Zeit zwischen 1958 und 1975 als eigenständige Institution existierte und die ein direkter Vorläufer des jetzigen Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Forschungszentrums Karlsruhe ist. Die Entstehung, die Wirksamkeit und die Auflösung der SfS fielen fast zeitgleich in eine entscheidende gesellschaftliche Umbruchphase in der Bundesrepublik, die vom Wahlsieg Adenauers 1957 bis zum Ende der Ära Brandt reichte.

Anliegen der vorliegenden Publikation ist es, die Zeit des Bestehens und Wirkens der Studiengruppe darzustellen, jedoch nicht als „reine“, „enge“, interne Institutionengeschichte, sondern als Untersuchung der Interaktionen zwischen der Studiengruppe und dem sich in jenen Jahren in der BRD nachhaltig verändernden Beziehungsgeflecht von Wissenschaft, Forschung, Politik und Gesellschaft, d. h. eingeordnet sowohl in die politische Situation in der Bundesrepublik als auch der (sozial-)wissenschaftlichen Diskussionen des interessierenden Zeitraums, um so Einflussgrößen wie Wechselbeziehungen aufdecken zu können, die für die Gründung, für die Existenz und für die Auflösung der Studiengruppe bedeutsam waren. Damit sollen exemplarisch - wie es auf S. 8/9 heißt - „aus historischer Perspektive Entwicklungsfaktoren und -bedingungen wissenschaftlich gestützter Politikberatung untersucht werden“ - eine gegenwartsnahe und gegenwartsbezogene Aufgabe, die auf drei Ebenen erfolgt: erstens die Darstellung der Entwicklung der Systemforschung als wissenschaftliches Instrumentarium zur Politikberatung und die Vermittlung ihrer Ergebnisse an die Öffentlichkeit; zweitens die Analyse sowohl der Ansprüche als auch der Schwierigkeiten, die das Verhältnis zwischen der SfS und den Akteuren des politisch-administrativen Bereichs wechselseitig bestimm(t)en; drittens das Herausarbeiten jener Bedingungen, unter denen die Studiengruppe in einem institutionell festgelegten Kooperationsrahmen ihr Beratungskonzept realisierte einschließlich des Verweises darauf, in wie weit sie jenes Maß an wissenschaftlicher Autonomie tatsächlich bewahren konnte, das sie als Voraussetzung für das Interaktionsverhältnis beanspruchte. Die Eingangsthese, dass die Erfolge der Studiengruppe nur aus dem Reformklima und dem gesellschaftlichen Wandel der sechziger Jahre erklärbar sind, hat durch die Untersuchung ein hohes Maß an Plausibilität erhalten.

Das vorliegende Buch basiert auf der Dissertationsschrift von Frau Andrea Brinckmann, die sie im Januar 2005 im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg erfolgreich verteidigte. Die Gutachter (Herr Professor Ulrich Troitzsch und der Verfasser dieses Geleitworts) waren sich einig in der Auffassung, dass diese Dissertation eine genuine Forschungsleistung darstellt: Aus historischer Perspektive geht sie der Entstehung und Entwicklung der wissenschaftsgestützten Politikberatung in der Bundesrepublik am Beispiel der SfS nach, wobei durch die Fokussierung auf die Wechselbeziehungen zwischen Politik, Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft und ihrem Wandel neue, zum Teil verallgemeinerbare Erkenntnisse gewonnen werden. Dafür wurde umfangreiches Quellenmaterial aus Privatbeständen, dem Bundesarchiv sowie dem Archiv des ITAS erstmalig systematisch gesichtet und in Verbindung mit Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der Studiengruppe ausgewertet.

Das vorliegende Buch verdeutlicht für einen begrenzten Zeitraum und bezogen auf eine ausgewählte Institution die enge Wechselwirkung zwischen Wissenschaftsentwicklung, Forschung und Planung im jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Kontext. Die Erkenntnisse sind nicht nur als erstmalige systematische Bearbeitung der "Vorgeschichte" des ITAS zu sehen, sondern sie gestatten auch - oder vor allem?! - das Ableiten von Schlussfolgerungen für die Gegenwart, für heutige wissenschaftliche Politikberatung.

Gerhard Banse, im Januar 2006


Erstellt am: 14.06.2006 - Kommentare an: webmaster