Ulrich Fiedeler

Stand der Technik neuronaler Implantate

Karlsruhe: Forschungszentrum Karlsruhe 2008 (Wissenschaftliche Berichte, FZKA 7387), 105 Seiten
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Einleitung

Neuronale Implantate sind in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld des öffentlichen Interesses gerückt. Fortschritte in verwandten Forschungsbereichen in Kombination mit einer wenig differenzierten massenmedialen Berichterstattung und Science-Fiction-Szenarien aus der Filmindustrie haben den Eindruck erweckt, dass sich auch die Möglichkeiten der neuronalen Prothetik enorm erweitert haben. Bei genauerer Betrachtung sind die Gründe für das verstärkte Interesse aber vielfältig und es lässt sich nicht allein auf die technischen Fortschritte zurückführen. So haben trotz intensiver Forschungsaktivitäten einige schon lang konzipierte neuronale Prothesen, wie Stand-, Gang- und Greifprothesen immer noch nicht die klinische Entwicklungsphase verlassen. Andere Implantate wie der Herzschrittmacher und das Cochlea-Implantat sind ausgereifte Produkte, die bereits in hohen Stückzahlen [1] implantiert werden. Die wirtschaftlichen Wachstumsaussichten tragen ihren Teil dazu bei, dass die Möglichkeiten und Entwicklungspotenziale neuronaler Implantate sehr hoch eingeschätzt werden. Im „BCC-research“-Marktbericht “Microelectronic Medical Implants: Products, Technologies and Opportunities” wird das Marktvolumen für Herzschrittmacher in den USA für das Jahr 2003 mit 7,2 Milliarden US$ mit einer Wachstumsprognose von jährlich 18,7 Prozent beziffert und das Marktvolumen der Neurostimulatoren im Jahr 2003 mit 944 Millionen US$ bei einer Wachstumsprognose von jährlich 39,7 Prozent (van Lieshout et al. 2006, Abschnitt 2.7.2).

Im Folgenden sollen einige der Forschungsfortschritte dargestellt werden, die dazu beitragen, dass den Entwicklungen neuronaler Implantate ein hohes Interesse entgegengebracht wird.

Entwicklungen im Umfeld neuronaler Implantate

Allen voran sind hier die Neurowissenschaften zu nennen. Die Forschungsergebnisse, die mittels der funktionellen Magnetresonanztomografie (functional Magnet Resonance Imaging, fMRI) gewonnen werden konnten, haben den Eindruck vermittelt, dass mit dieser Methode nun direkt Gedanken gelesen werden könnten. Dass die Interpretationen der Ergebnisse jedoch sehr voraussetzungsreich und teilweise auch umstritten sind, wurde in vielen Publikationen schon zur Sprache gebracht (Hüsing et al. 2006, Tebartz van Elst 2007, vgl. auch Schleim 2007). Dennoch haben gerade diese Forschungsergebnisse und Erkenntnisse auf dem Gebiet der Elektro- und Magnetoenzephalografie die Diskussion um den Freien Willen neu entfacht und ein breites Medienecho hervorgerufen. Trotz der noch offenen Interpretation der Messungen haben diese neuen Methoden der Hirnforschung das Wissen über die Arbeitsweise des Gehirns deutlich vorangebracht.

Andere Entwicklungen, die auf das Gebiet der neuronalen Implantate ausstrahlen, sind durch Fortschritte in der Bio-, insbesondere der Gentechnologie, sowie durch die Kombination von Biotechnologie mit der Mikroelektronik vorangetrieben worden. So gelang es dem Team von Peter Fromherz 2001 einzelne lebende Neuronen auf einem mikroelektronischen Chip zu 1 Allein in Deutschland wird die Zahl der Täger eines Herzschrittmachers auf 300.000 (El-Fikri et al. 2005) und die Zahl der Träger eines Cochlea-Implantats auf 60.000 geschätzt (Rosahl 2004). kultivieren und einige elektrische Korrelate ihrer nervalen Aktivität auszulesen (Fromherz 2001, vgl. auch Infineon-Pressemitteilung 2003). Technologische Voraussetzungen dieser Forschung sind die Erzeugung biokompatibler Beschichtungen, die Kultivierung lebender Zellen in einer künstlichen Umgebung sowie die Modifikation der Neuronen mittels Gentechnik.

Darüber hinaus trägt die fortschreitende Entschlüsselung der biochemischen Prozesse von Botenstoffen und deren Antagonisten an den Schnittstellen der Nerven (den Synapsen) sowie des Stoffwechsels der Neuronen selbst zum Verständnis der Funktionsweise des Nervengewebes bei. Diese Erkenntnisse münden in technologische Ansätze, Neuronen nicht nur elektronisch anzuregen, sondern mittels Variation des chemischen Milieus zu kontrollieren (Constans 2003).

Einen weiteren Beitrag liefert das Feld der Computersimulation. Aufgrund größerer Rechenkapazität ist es möglich, das Zusammenspiel vieler Neuronen zu modellieren und damit die Aktivität umfangreicher neuronaler Netzwerke zu simulieren (Berger et al. 2005, Hynna et al. 2007). Diese Simulationen helfen, das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns zu vertiefen.

Das Ineinandergreifen der oben aufgeführten Entwicklungen gibt zu der Vermutung Anlass, dass auch im Bereich der neuronalen Implantate erhebliche Fortschritte zu erwarten sind. Diese Vermutung wird durch Verlautbarungen mancher Forscher und Forschungsmanager im Bereich der Nanotechnologie genährt, die das Zusammenwachsen von Nano-, Bio- und Informationstechnologie mit den Kognitionswissenschaften als eine Entwicklung ansehen, die es ermöglichen wird, direkt auf den Körper und vor allem auf das Gehirn des Menschen bzw. auf deren mentale und kognitive Prozesse zugreifen zu können (Roco et al. 2002, Kurzweil 1999).

Auch Quellen, die den Entwicklungen auf diesem Gebiet wesentlich zurückhaltender gegenüber stehen, folgen bis zu einem gewissen Grad den ausgedrückten Erwartungen (van Lieshout 2006, S. 2), wenngleich auch Zweifel daran geäußert wird, ob dieser oben erwähnte direkte Zugriff auf mentale Prozesse überhaupt erreicht werden kann (van Lieshout 2006, S. 3. Vgl. auch Coenen 2005, van Lieshout et al. 2006, Andler et al. 2006).

Bezug zur Nanotechnologie

Aus zwei Gründen spielen neuronale Implantate im Bereich der Nanotechnologie eine hervorgehobene Rolle. Erstens wird vermutet, dass die Nanotechnologie neue technische Möglichkeiten eröffnet, die die Entwicklung von neuronalen Implantaten entscheidend vorantreiben wird. Nanotechnologie wird in diesem Zusammenhang als eine „ermöglichende Technologie“ (enabling technology) angesehen [2]. Das bedeutet, dass mittels der Nanotechnologie Materialien, Beschichtungen oder Analyse- und Prozesstechniken realisiert werden können, die es dann im zweiten Schritt ermöglichen, Produkte mit neuen Eigenschaften und Funktionen zu realisieren. Die Nanotechnologie soll insbesondere bei folgenden Entwicklungen zu deutlichen Fortschritten führen:

Zweitens hat sich aufbauend auf diesen Erwartungen eine Debatte etabliert, in der vor dem Hintergrund der Nanotechnologie weitreichende Konsequenzen zukünftiger Anwendungen neuronaler Implantate diskutiert werden (Roco et al. 2002). Symptomatisch an dieser Diskussion ist die Tatsache, dass die geäußerten Erwartungen weit über die konkreten technischen Entwicklungen hinausgehen. Häufig ist ein technischer Bezug gar nicht festzustellen (Fiedeler et al. 2005, Fiedeler et al. 2006).

Zielsetzung des Berichtes

Dieser Bericht dient dazu, einen Überblick über die derzeit am meisten verbreiteten neuronalen Implantate zu geben. Er konzentriert sich auf die Darstellung der fundamentalen technisch- medizinischen Zusammenhänge mit dem Ziel, dass sich der Leser eine Vorstellung von dem heutigen Entwicklungsstand neuronaler Implantate machen und somit die Glaubwürdigkeit der geäußerten Erwartungen, was zukünftige Entwicklungen auf diesem Gebiet betrifft, beurteilen kann. Der Bericht ist Ergebnis eines Teilvorhabens innerhalb des Helmholtz- Verbundprojektes „Nanotechnologie und Gesundheit – Technische Optionen, Risikobewertung und Vorsorgestrategien“ [3]

Entsprechend dem gesteigerten Interesse an neuronalen Implantaten und an der Hirnforschung gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien, auf die dieser Bericht aufbauen kann. Die aufwendigste Untersuchung wurde von der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH durchgeführt (Merkel et al. 2007). Neuronale Implantate stellen in dieser Untersuchung jedoch nur einen Aspekt des Untersuchungsgegenstandes dar. Außerdem konzentriert sich diese Untersuchung v.a. auf die ethische Dimension und weniger auf die konkrete technischmedizinische Realisierung der Implantate.

Eine weitere Studie wurde von dem Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) herausgegeben. Sie richtet sich vorwiegend an die Industrie und konzentriert sich daher auf wirtschaftliche Aspekte (Bolz et al. 2005).

Weitere Studien auf diesem Gebiet sind: TA-Projekt zur Hirnforschung des Büros für Technikfolgen- Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (Hennen et al. 2007), Nsanze 2005, Eckmiller 1994 und Eckmiller 1995.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der hier vorliegende Bericht erst den Anfang einer intensiveren Untersuchung neuronaler Implantate darstellt. So werden in einer folgenden Teilstudie des oben genannten Verbundprojektes die ethischen Aspekte der hier vorgestellten neuronalen Implantate detailliert in den Blick genommen. Deshalb beschränkt sich dieser Bericht auf die Darstellung des technisch Machbaren und auf derzeitige Forschungsaktivitäten, verzichtet aber auf eine Potenzial- oder Trendanalyse sowie eine Diskussion ethischer Fragestellungen der Anwendung solcher Techniken.

Aufbau

Der Bericht beginnt mit einer allgemeinen Einführung, in der prinzipielle neurologische und technische Begriffe eingeführt und erklärt werden. Darüber hinaus werden auch einige Begriffe erläutert, die sich nicht direkt auf neuronale Implantate beziehen, die aber in der Debatte um die Möglichkeiten neuronaler Implantate häufig genannt werden. Im Anschluss an die Einführung werden die einzelnen Implantate beschrieben. Zur besseren Diskussion und Einordnung werden die Implantate nach ihrer Funktion eingeteilt und unterschieden. Auf erster Ebene werden die Implantate drei Gruppen zugeordnet:

Die Implantate, die der Wiederherstellung motorischer Funktionen dienen, zielen darauf ab, den Verlust der Beweglichkeit von Gliedmaßen oder auch von essenziellen Körperfunktionen wie die kontrollierte Blasen- und Darmentleerung zu beheben. Hierbei wird in diesem Bericht zwischen unbewussten (Abschnitt 4.1) und bewussten (Abschnitt 4.2) Bewegungen unterschieden. Bei den Implantaten, die unbewusst ausgeführte Bewegungen wiederherstellen, handelt es sich um die Steuerung von Muskelkontraktionen wie das reflexartige Zusammenziehen der Blasenmuskulatur durch einen Blasenstimulator oder die Kontrolle des Herzschlags mittels eines Herzschrittmachers. Die Gruppe der Implantate, die bewusste Bewegungen wiederherstellen, zielt auf das Ansteuern von gelähmten oder künstlichen Gliedmaßen wie Stand-Gang-Prothesen [4] oder Greif-Implantate ab. Diese Unterscheidung wurde eingeführt, weil sie in Bezug auf die Interaktion des Trägers mit dem Implantat einen qualitativen Unterschied markiert. Während das Implantat, welches Reflexe steuert, eher unabhängig vom Patienten „im Hintergrund“ arbeitet, findet bei den Implantaten zur Wiederherstellung der Willkürmotorik eine bewusste Steuerung des Implantats statt. Diese Bewegungsabläufe sind meistens komplex und bedürfen einer sensorischen Rückkopplung. Sie gehören daher zu den sensomotorischen Bewegungen, bei denen ein Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung besteht. Wenngleich die Implantate, die Reflexe und Vitalfunktionen steuern, meist weniger komplexe Bewegungsabläufe kontrollieren, so sind sie bezüglich der Bedeutung für den Träger in sofern von besonderer Bedeutung, als sie lebenswichtige Körperfunktionen steuern. Diskussionswürdig sind sie auch in der Hinsicht, als sie „autonom“ agieren. Damit ist gemeint, dass das Implantat aufgrund seiner technischen Voreinstellungen „entscheidet“, wann es in welcher Art die Stimulationsimpulse abgibt.

Die zweite Untergruppe umfasst Implantate, die darauf ausgerichtet sind, sensorische Störungen zu beheben bzw. Sinneseindrücke zu implementieren (Kap. 5). Der wesentliche Unterschied zu den „motorischen“ Implantaten besteht darin, dass hier nicht Muskeln innerviert werden, sondern Sensationen bzw. Wahrnehmungsmuster (Hören, Sehen etc.) erzeugt werden, welche über neuronale Verbindungen in das Bewusstsein eingeprägt werden. Eine Untergruppe stellen hierbei die Implantate dar, die der Schmerzbehandlung dienen (Abschnitt 5.1).

Schließlich werden in der dritten Gruppe Implantate betrachtet, die darauf abzielen, kognitive Funktionen wie Stimmungen, Emotionen bis hin zu Gedächtnisleistungen zu beeinflussen. Diese Implantate und Ansätze werden in Kapitel 6 vorgestellt.

Eine besondere Rolle im Bereich der neuronalen Implantate spielt die Entwicklung einer Schnittstelle zwischen dem menschlichen Gehirn und dem Computer (Brain Computer Interface, BCI). Die Entwicklung einer solchen Schnittstelle liegt quer zu der oben beschriebenen Einteilung und lässt sich in allen drei Anwendungsfeldern neuronaler Implantate wieder finden. Dennoch wird der Begriff heute im Bereich der Neuroprothetik für solche Schnittstellen reserviert, welche elektrische Hirnaktivität zur Steuerung von Computern oder künstlichen Gliedmaßen über Elektroden abgreifen.

Allgemein wird eine (neuroelektrische) Schnittstelle zwischen dem Gehirn und einem Computer als eine Schlüsselkomponente bei der Entwicklung neuronaler Implantate angesehen und erfährt dementsprechend große Aufmerksamkeit nicht nur innerhalb der Forschung. Daher wird sie zum einen kurz an den entsprechenden Stellen der verschiedenen Kapitel vorgestellt, zum anderen aber auch in einem gesonderten Kapitel (Kap. 6.3) ausführlicher behandelt.

Methodik

Entsprechend der Fokussierung dieser Studie auf die Funktionsweise existierender Implantate und der zugehörigen Forschungsaktivitäten basiert die Untersuchung überwiegend auf der Analyse entsprechender Fachliteratur. Hierbei war es nicht Ziel, alle Ansätze zu erfassen, an denen geforscht wird, sondern nur diejenigen zu beschreiben, die am meisten verbreitet sind bzw. die zu weit reichenden Innovationen führen, wie z. B. die Wiederherstellung von Gedächtnisfunktionen. Da sich der Bericht vorzugsweise an ein interessiertes Laienpublikum mit akademischem Hintergrund richtet und zudem eine Vielzahl von verschiedenen Implantaten vorgestellt wird, beschränken sich die Erläuterungen auf die wesentlichen Aspekte des Implantats. Die Literaturanalyse wurde zur Validierung zudem durch einige Experteninterviews (vgl. Anhang) ergänzt.

Anmerkungen

[1] Allein in Deutschland wird die Zahl der Täger eines Herzschrittmachers auf 300.000 (El-Fikri et al. 2005) und die Zahl der Träger eines Cochlea-Implantats auf 60.000 geschätzt (Rosahl 2004).

[2] Zu den Charakteristika der Nanotechnologie vgl. Fiedeler et al. 2004.

[3] Vgl.: (24.9.2007)

[4] Implantate zur Wiederherstellung von Stand-, Gang- oder Greiffunktionen werden in der Literatur meistens als Prothesen bezeichnet, auch wenn es sich dem Wortsinn nach um Implantate handelt. Zur diesem Projekt zugrunde gelegten Definition von neuronalen Implantaten siehe auch Abschnitt 2.2.

 

Erstellt am: 10.04.2008 - Kommentare an: webmaster