Gerhard Banse, Armin Grunwald, Wolfgang König, Günter Ropohl (Hg.)

Erkennen und Gestalten. Eine Theorie der Technikwissenschaften

Berlin: edition sigma, ISBN 3-89404-538-8, 375 Seiten, 21,90 Euro
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Geleitwort

Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich erscheinen, dass die Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung im Rahmen des Schwerpunkts „Mensch- Technik-Interaktion in Kommunikationssystemen“ ein Projekt fördert, das sich der Erarbeitung einer „Theorie der Technikwissenschaften“ widmet. In zweierlei Hinsicht ergeben sich freilich Anknüpfungspunkte: Im engeren Sinne bestehen sie dahingehend, dass das Erkennen und Gestalten in den Technikwissenschaften nicht nur Technik in Gestalt von Artefakten hervorbringt, mit denen Menschen interagieren und kommunizieren, sodass die Sachsysteme als „soziotechnische“ Systeme modelliert werden müssen, sondern dieses Erkennen und Gestalten bereits in vielerlei Hinsicht Technik nutzt, insbesondere die Unterstützung durch einschlägige Informations- und Kommunikationssysteme (wissensbasiertes computergestütztes Konstruieren, Simulation, „Rapid Prototyping“ etc.). In einem weiteren Sinne liegt der Anknüpfungspunkt darin, dass die Informationsund Kommunikationstechnologien im Paradigma der Technikwissenschaften entwickelt werden, deren Subjekte sich im Idealfall als solche begreifen, die über ihre Arbeitserträge (die technischen Entwicklungen) mit anderen Subjekten interagieren, die die Produkte an den Markt bringen, vertreiben, nutzen, erhalten und warten, recyceln oder deponieren. Erfolgreiche oder misslungene „Karrieren“ technischer Produkte, ökologisch oder wirtschaftsethisch als förderlich oder misslich zu erachtende Entwicklungen, zielführende Nutzung oder Fehlgebrauch bis hin zum kontraproduktiven Effekt, Kompetenzgewinne oder Kompetenzverluste: all das ist in hohem Maße durch gelingende oder fehlgeschlagene Kommunikationsprozesse bedingt, insbesondere beim Abgleich der Profile und impliziten Werthaltungen der Adressaten mit den Vorstellungen der Entwickler.

Wozu benötigen wir aber hierfür eine allgemeine Theorie der Technikwissenschaften? Was trägt eine allgemeine Theorie dazu bei, die erwähnten Interaktionsprozesse zu fördern? Zunächst einmal bietet eine allgemeine Theorie Begriffe und Modellierungen an, die das eigene Tun jenseits der alltäglichen, direkten Arbeitszusammenhänge, die unter dem funktionalen Erfordernis der Effizienz- und Effektivitätserhöhung stehen, in allgemeineren Zusammenhängen zu verorten helfen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass ein Nachdenken über die Bedingungen und über die umfassenderen Ziele der Ingenieurtätigkeit einsetzen kann. Freilich nicht als Selbstzweck; denn die Vergewisserung über Bedingungsverhältnisse und Perspektiven ist ihrerseits die Voraussetzung dafür, diese Bedingungsverhältnisse zu gestalten und alternative Orientierungen zu erwägen. Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von „Reflexion“ und widmen sie, in einer schönen Formulierung Wilhelm Diltheys, der „Wiedererschließung von Möglichkeiten, die in der Determination unserer realen Lebens in Vergessenheit geraten“. In der Sprache der Ingenieure heißt das „Erschließung neuer Suchräume“, allerdings nicht für die Entwicklung neuer konkreter Produkte, sondern methodischer Zugriffe, Entwicklungsstrategien, Nutzungsszenarien. Verengte Suchpfade können dann erweitert, komplementiert, relativiert, modifiziert oder kompensiert werden, wenn alternative Optionen von der Warte einer allgemeinen Theorie aus ins Blickfeld geraten.

Ansätze hierzu sind einerseits in den einschlägigen Lehrbüchern, andererseits in weiten Bereichen der Technikphilosophie entwickelt. Warum erscheinen sie uns als bloße „Ansätze“? Nun – jede allgemeine Theorie beruht notwendigerweise auf Abstraktion. Jegliche Abstraktion kann in beliebiger Richtung vorangetrieben werden, je nachdem, welche klassenbildenden Merkmale als relevant erachtet werden. Es wundert darum nicht, dass die in den Einleitungsund Grundlagenkapiteln der Lehrbücher einzelner technischer Disziplinen vorgelegten allgemeinen Grundbegriffe und Erwägungen ihre Herkunft aus der Problemsicht der Disziplinen nicht verleugnen können. Ähnlich verhält es sich in weiten Bereichen der Technikphilosophie, die im Ausgang von unterschiedlichen metaphysischen oder philosophisch-anthropologischen Grundannahmen Technik ganz unterschiedlich verortet und technisches Handeln ganz unterschiedlich modelliert.

Um diesen Misslichkeiten zu begegnen, ist das Projekt in einem strengen Sinne interdisziplinär angelegt, also in einem Sinne, der die üblicherweise als „Interdisziplinarität“ propagierte Multidisziplinarität hinter sich lässt. Denn Multidisziplinarität addiert nur die disziplinären Einseitigkeiten und erlaubt allenfalls, diese im Rahmen von wechselseitigen Sensitivitätstests abzugleichen oder zu relativen. Echte Interdisziplinarität beruht auf einer gemeinsamen Problemsicht, die allererst erarbeitet werden muss, und zu deren Lösung dann Elemente aus den einzelnen Disziplinen zusammengeführt werden können. Die Stiftung begrüßt, dass es gelungen ist, Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Teilgebiete der allgemeinen Technikforschung einerseits (Technikgeschichte, Technikphilosophie, Wissenschaftstheorie, Methodologie) sowie andererseits der angrenzenden Disziplinen (Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften) und selbstverständlich der klassischen technischen Disziplinen zusammenzubringen. Hier jedenfalls ist der Grundstein für eine gelingende Kommunikation gelegt.

Im Namen der Stiftung danke ich den Herausgebern und allen Beiträgerinnen und Beiträgern. Und nicht zuletzt danke ich dem Direktor der Stiftung, Herrn Dr. Dieter Klumpp, dessen Geschäftsstelle das Projekt im Stiftungsgeschehen verortet, wohlwollend begleitet und den reibungslosen organisatorischen Ablauf gewährleistet hat.

Christoph Hubig
Kurator der Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung
und Leiter des Studienzentrums Deutschland


Erstellt am: 18.07.2006 - Kommentare an: webmaster