Den globalen Wandel gestalten -
Forschung und Politik für einen nachhaltigen globalen Wandel

Jürgen Kopfmüller (Hrsg.)
Berlin: edition sigma, 2003 (Global zukunftsfähige Entwicklung - Perspektiven für Deutschland, Bd. 6), ISBN: 3-89404-576-0, 358 Seiten, 24,90 Euro


Einführung

Gesellschaftliche Entwicklung wird in hohem Maße durch Wissenschaft und Forschung geprägt. Der Erzeugung neuen und der Auswertung vorhandenen Wissens kommt eine zentrale Bedeutung für gesellschaftliche Entscheidungen zu. Dies gilt in besonderem Maße angesichts der gerade in den letzten Jahrzehnten stetig globaler und dadurch vielfältiger und komplexer werdenden Entwicklungsprozesse.

Die Forschung zum Globalen Wandel wie auch zu dem seit einiger Zeit die wissenschaftlichen und politischen Debatten dominierenden Leitbild der nachhaltigen Entwicklung haben im Prinzip sowohl die globale Perspektive als auch die verschiedenen Komponenten gesellschaftlicher Entwicklung zum Gegenstand. Beide Forschungsfelder weisen mittlerweile eine rund zwanzigjährige Geschichte auf. Dabei stehen Wissenschaft und Forschung und das Nachhaltigkeitsleitbild in einer zweifachen Beziehung zueinander: Einerseits werden mit dem Leitbild neue Themenfelder auf die Forschungsagenda gebracht. Dies gilt insbesondere dann, wenn es in globaler Perspektive, in einem gerechtigkeitsbezogenen und in einem integrativen, die verschiedenen Entwicklungsaspekte reflektierenden und verknüpfenden Sinne verstanden wird. Andererseits kommt der Wissenschaft eine wichtige Rolle bei der Formulierung konkreter Nachhaltigkeitsziele und bei der Suche nach Wegen zur Erreichung dieser Ziele zu.

Eine Verknüpfung der Global-Change-Forschung mit dem Nachhaltigkeitsleitbild ist also nahe liegend, wünschenswert und findet auch an vielen Stellen bereits statt. Es ist jedoch zu fragen, inwieweit sich diese Verknüpfung in angemessener Weise vollzieht. Diese Frage bildete den Hintergrund und Anlass für eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Tagung, die das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) im Forschungszentrum Karlsruhe im Juni 2002 in Bad Honnef unter dem Titel "Nachhaltige Entwicklung und Globaler Wandel, Bestandsaufnahme, Bewertungen und Handlungsbedarf" veranstaltete. Ziel der Veranstaltung war es, die Notwendigkeiten, Voraussetzungen und Möglichkeiten einer angemessenen Verknüpfung der beiden Elemente aufzuzeigen und zu diskutieren. Die Ergebnisse sind in dem vorliegenden Band in überarbeiteter und ergänzter Form dokumentiert.

Dabei liegt den meisten Beiträgen in expliziter oder impliziter Form die These zugrunde, dass die Global-Change-Forschung sich bislang noch unzureichend am Nachhaltigkeitsleitbild orientiert. Wesentliche Elemente einer Betrachtung globaler Wandelsprozesse, die einem integrativen Nachhaltigkeitsverständnis gerecht werden würde, bleiben weitgehend ausgeblendet, etwa Fragen des Zugangs zu und der Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen. In Kapitel 1 wird zunächst der Blick auf die Spezifika des Nachhaltigkeitsleitbilds und die Konsequenzen daraus für Forschung und Politik gerichtet. Jürgen Kopfmüller benennt in seinem einführenden Beitrag zunächst zwei Kernelemente eines integrativ verstandenen und auf dem Gerechtigkeitspostulat basierenden Nachhaltigkeitsleitbilds: das Verantwortungsprinzip und die Relevanz von Verteilungsfragen. Er beschreibt verschiedene Facetten der globalen Perspektive des Leitbilds und skizziert davon ausgehend einige Leitlinien für dessen Umsetzung. Er macht die Diagnose mangelhafter Reflexion des Nachhaltigkeitsleitbilds in der Global-Change-Forschung daran fest, dass sich Letztere weitestgehend mit globalen Umweltveränderungen bzw. -problemen befasst und die Betrachtung sozialer, ökonomischer und institutioneller Aspekte auf deren Rolle bei der Verursachung dieser Umweltprobleme beschränkt. Daraus leitet er die Notwendigkeit einer Erweiterung der Global-Change-Forschung auf einer problemanalytischen und einer handlungsbezogenen Ebene ab.

Jill Jäger beschreibt im Anschluss daran wesentliche Elemente der "Sustainability Science", einem in der jüngeren Vergangenheit auf der internationalen Ebene in die Debatte gelangten wissenschaftlichen Ansatz zur Unterstützung einer nachhaltiger Entwicklung. Um Wissen zur Verfügung stellen zu können, das den Kriterien Glaubwürdigkeit, Relevanz und Legitimität entspricht, wird hier ein Vorgehen propagiert, das in vielerlei Hinsicht von der herkömmlichen Wissenschaftspraxis abweicht. Im Vordergrund stehen dabei insbesondere Inter- und Transdisziplinarität, die Formulierung von Forschungsthemen verstärkt auf der Basis gesellschaftlicher Problemwahrnehmungen und -definitionen, die Verknüpfung von grundlagen- und anwendungsbezogener Forschung oder die Koordination und Kooperation zwischen Wissenschaft und Technikentwicklung.

Die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung erfordert die Verfügbarkeit bestmöglichen Wissens sowie die Umsetzung dieses Wissens in Handeln, d. h. in gesellschaftliche Steuerung. In Orientierung an dieser Grundeinsicht wurden im Rahmen der Tagung drei Themenfelder vertieft betrachtet, die auch den Kern des vorliegenden Bandes bilden: Humankapital und Bildung, Wasser sowie Global Governance. Aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven werden Charakteristik und Dimension bestehender Probleme beschrieben, Anforderungen an die Politik und andere Akteure formuliert und, davon ausgehend, vordringliche Forschungsfragen für die Zukunft benannt. Die nachfolgenden drei Kapitel folgen dabei jeweils der gleichen Struktur: Zunächst wird in einem einführenden Beitrag ein Überblick über das jeweilige Themenfeld und die verschiedenen Beiträge gegeben. Gerhard Banse tut dies für den Bereich Humankapital und Bildung, Martin Socher für den Bereich Wasser und Wolfgang Fischer für den Bereich Global Governance. Daran schließen sich jeweils die einzelnen Beiträge an.

Kapitel 2 ist dem Thema Humankapital und Bildung gewidmet. Dieses in den letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund politischer und öffentlicher Debatten gerückte Themenfeld ist in zweifacher Weise mit dem Thema nachhaltige Entwicklung verbunden: Nachhaltige Entwicklung ist zum einen als Inhalt von Wissen und Bildung zu verstehen, etwa was die Sensibilisierung für Elemente wie Komplexität, Unsicherheit oder Bewertungsfragen anbelangt (Bildung über nachhaltige Entwicklung). Zum anderen ist ein bestimmtes Bildungsmindestniveau - d. h. vor allem "Grundbildung für alle" zu den Kernfähigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen oder zu Gesundheitsfragen - entscheidende Voraussetzung für die Möglichkeit der globalen Umsetzung nachhaltiger Entwicklung (Bildung für nachhaltige Entwicklung). Damit sind sowohl Fragen des Zugangs zu der Ressource Bildung/Wissen als auch der Qualität dieser Ressource angesprochen. Die einzelnen Beiträge befassen sich mit der Thematik unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten (Gisela Dybowski und Michael Härtel), unter inhaltlichen Gesichtspunkten (Gerhard de Haan) und aus der Forschungsperspektive (K. Matthias Weber).

In Kapitel 3 wird die Wasserthematik behandelt. Seit einigen Jahren wird hierin eines der wesentlichen globalen Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitsprobleme gesehen, das in enger Beziehung zu verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungsfeldern und -problemen steht (Gesundheit, Ernährung, Einkommen aus landwirtschaftlicher Tätigkeit etc.). Auch hier spielen sowohl Gerechtigkeitsfragen des chancengleichen Zugangs zu Wasserressourcen (mit den damit verbundenen Machtfragen und Konfliktpotenzialen) als auch Qualitätsfragen (vor allem bezogen auf Trinkwasser) eine ganz entscheidende Rolle. Die Schwerpunkte der Betrachtung liegen hier bei der internationalen Perspektive wasserpolitischer Maßnahmen (Axel Klaphake), bei spezifischen Erfahrungen eines Global-Change-Projekts (Eckart Ehlers), bei der Perspektive der bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit (Hinrich Eylers) sowie bei der nationalen Perspektive (Thomas Kluge).

Das Thema Global Governance ist Gegenstand des Kapitels 4. Die Frage, wie vorhandenes Wissen in konkretes Handeln, in gesellschaftliche Steuerung auf den verschiedenen Ebenen, insbesondere der globalen, und in Abstimmung mit den relevanten Akteuren umzusetzen ist, sodass gesteckte Nachhaltigkeitsziele erreicht werden können, steht im Mittelpunkt dieses vergleichsweise jungen (Forschungs-)Gebiets. Es werden zunächst Entstehungskontext und Grundgedanken des Konzepts skizziert und daraus mit Blick auf gegenwärtige internationale Politikgegebenheiten generelle Forschungsperspektiven und -themen aufgezeigt (Dirk Messner). Die drei anderen Beiträge betrachten das Themenfeld schwerpunktmäßig aus der ökologischen Perspektive (Frank Biermann), aus der institutionellen Perspektive (Joachin H. Spangenberg) sowie aus der Perspektive von Nichtregierungsorganisationen (Michael Baumann).

Im abschließenden Kapitel 5 wird der Fokus auf die Rolle von Konflikten im Zusammenhang mit der Realisierung nachhaltiger Entwicklung gerichtet. Der Konfliktbegriff wird hier in zweierlei Weise verwendet: bezogen auf eine konzeptionell-analytische Ebene und bezogen auf reales Handeln im Sinne von Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen. Armin Grunwald bewegt sich auf der konzeptionell-analytischen Ebene. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass das Nachhaltigkeitsleitbild Konfliktpotenziale sowohl auf der Zielebene als auch auf der handlungsstrategischen Ebene beinhaltet. Zur Frage der Bewältigung dieser Konflikte stellt Grunwald in idealtypisierender Weise den naturalistischen Ansatz (der wissenschaftlich abgeleitete, "optimale" und "objektive" Wege zur Nachhaltigkeit beschreibt) und den kulturalistischen Ansatz (bei dem zu wissenschaftlicher Erkenntnis auch gesellschaftlicher Diskurs und normative Reflexion hinzukommen) gegenüber. Angesichts der von ihm diagnostizierten Unzulänglichkeiten des naturalistischen Ansatzes, der spezifischen Eigenheiten moderner Gesellschaften und des zugrunde gelegten Nachhaltigkeitsverständnisses folgert er, dass nachhaltige Entwicklung nur als "kulturalistisches Projekt der Moderne" verstanden werden kann. Er leitet daraus forschungsbezogene Erfordernisse hinsichtlich Methoden und Inhalten ab, die auf die Gewährleistung von Partizipation, die Reflexion bestmöglichen Folgenwissens sowie auf die Einbeziehung ethischer Fragen gerichtet sind.

Schließlich hebt Dieter Lutz angesichts der zunehmend komplexen und nicht-linearen Entwicklungsprozesse sowie der Gefahren vermehrter und neuartiger Probleme und Konfliktpotenziale, bis hin zu Kriegen um Ressourcen, die Bedeutung der Friedens- und Konfliktforschung hervor. In der von ihm vorgenommenen Abgrenzung ist Friedensforschung als "Existenzerhaltungswissenschaft" im globalen Maßstab und damit als wichtiger Teil einer Nachhaltigkeitsforschung zu verstehen. Die Konfliktforschung sieht er demgegenüber auf die Eindämmung von gewalttätigen Konflikten und deren Folgen begrenzt. Er benennt zwei Kernthemen einer verknüpften Friedens- und Nachhaltigkeitsforschung: zum einen Arbeiten zum Umgang mit bzw. zur Reduktion der "gordischen Komplexitäten" und deren Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit von internationalen Regimen, Organisationen und Steuerungskonzepten; zum anderen Arbeiten zum Umgang mit dem Faktor Zeit, bezogen auf die Wirksamkeit von Problemlösungsstrategien, auf systemimmanente Umsteuerungserfordernisse sowie auf mögliche Divergenzen zwischen diesen Größen. Vor dem Hintergrund der bestehenden Anforderungen stellt Lutz schließlich die Frage nach der Nachhaltigkeits- bzw. Friedensfähigkeit der Demokratie. Eine wissenschaftlich fundierte Kritik der Demokratie muss nach seiner Auffassung dazu beitragen, den von manchen als unentrinnbar betrachteten "Ausweg in die Diktatur" zu verhindern und zugleich angemessenere Formen und Institutionen für demokratisch gestaltete Wege in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu finden.

Die von den verschiedenen Autoren dieses Bandes dargelegten Problemanalysen und die daraus abgeleiteten handlungsstrategischen und forschungspolitischen Vorschläge sollen einen Beitrag zur aktuellen wissenschaftlichen und politischen Debatte leisten. Mit den expliziten und impliziten Vorschlägen hinsichtlich einer Erweiterung und Neuorientierung der Global-Change-Forschung zielt dieser Beitrag zum einen auf die stets notwendige Debatte über forschungspolitische Perspektiven und Prioritäten, die gegenwärtig gerade in diesem Bereich wieder intensiver geführt zu werden scheint. Zum anderen sollen auch Diskussionsanstöße in den drei ausgewählten Themenfeldern zur Frage geeigneter Handlungsstrategien und künftiger Forschungsprioritäten gegeben werden.

Als Herausgeber dieses Bandes gilt mein Dank zunächst allen Autoren, die mit ihren Beiträgen zum Gelingen der vorliegenden Veröffentlichung und zur Erfüllung der zu Beginn des "Projekts" gesetzten Ansprüche beigetragen haben. Besonderer Dank gebührt Waltraud Laier, die in bewährter Art und Weise die verschiedenen Texte in die druckfertige Form gebracht hat. Danken möchte ich auch Sylke Wintzer für ihr unermüdliches und sehr sorgfältiges Korrekturlesen aller Texte.

Schließlich bleibt mir noch eine traurige Aufgabe. Mit großer Bestürzung musste ich, wie auch die übrigen Autoren, zur Kenntnis nehmen, dass zwei der beteiligten Autoren während der Phase der Erstellung des vorliegenden Bandes plötzlich und unerwartet verstorben sind: Professor Dieter S. Lutz und Dr. Michael Baumann. Ich selbst habe beide im Zusammenhang mit der hier dokumentierten Tagung als kompetente, erfahrene und engagierte Experten in ihrem Fachgebiet und Streiter für ihre Anliegen kennen gelernt. Diese Eigenschaften haben sowohl ihre Tagungspräsentationen als auch ihre in diesem Band nachzulesenden Textbeiträge geprägt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zu hoffen, dass das Engagement und die Ideen dieser beiden Personen in angemessener Weise weitergetragen werden können.

Jürgen Kopfmüller
Karlsruhe, im Juni 2003




Stand: 14.08.2003 - Kommentare an:     Jürgen Kopfmüller