www.itas.kit.edu     [ITAS-Literatur]

Grunwald, Armin: Technik für die Gesellschaft von morgen. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Technikgestaltung. Frankfurt am Main: Campus 2000 (Reihe: Gesellschaft - Technik - Umwelt. Veröffentlichungen des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse), ISBN 3-593-36750-5


Einführung

Spätestens seit der Industriellen Revolution ist mit Technik in mehrfacher Hinsicht zumeist das Versprechen besseren Lebens verbunden: als Entlastung von körperlicher Arbeit durch technische Werkzeuge, als Mehrung von individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand durch neue und effizientere Formen der Wertschöpfung, als Emanzipation von der Angewiesenheit auf die Launen der Natur, als Befreiung von den Zwängen der Erwerbsarbeit (Marx, Bloch) und gegenwärtig vor allem als Medium zur Ermöglichung globaler Kommunikation. Technik erschien, in dieser Sicht, wesentlich verbunden mit den Idealen der europäischen Aufklärung; Technikentwicklung erfolgte, so die dominante Wahrnehmung, vor allem unter emanzipatorischem Interesse (Habermas 1968a). Diese emphatischen Zukunftserwartungen im Zusammenhang mit Technik und Technisierung sind in der Gegenwart verloren gegangen. Teilweise sind sie in ihr Gegenteil umgeschlagen, wenn der repressive und autoritäre Charakter von Technik und Technisierung in den Vordergrund gestellt wird,

oder wenn apokalyptische Gefahren für den Fortbestand der Menschheit der Technik zugerechnet werden (z. B. Jonas 1979). Haben derart skeptische oder radikalpessimistische Technikinterpretationen zwar nicht die Meinungsführerschaft in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion über Technik errungen, so haben sie doch die Dominanz fortschrittsoptimistischer Interpretationen zerstört. Die Anerkennung der tiefgreifenden Ambivalenz von Technik und gesellschaftlicher Technisierung gehört zum kollektiven Bewusstsein der Gegenwart und ist Ansatzpunkt zahlreicher Bemühungen um eine "neue Übersichtlichkeit" in einem zusehends unübersichtlich und chaotisch werdenden Feld verloren gegangener Orientierungen. [1]

Wissenschaft und Technik seit dem 16. Jahrhundert wurden zwar keineswegs immer unkritisch aufgenommen. Es gab Antipathien und Abwehr gegenüber einzelnen technischen Innovationen (z. B. gegenüber der Eisenbahn) genauso wie einige geistesgeschichtliche Strömungen (wie Teile der deutschen Romantik) der Technik gegenüber überwiegend skeptisch eingestellt waren. Im 19. Jahrhundert bestimmten vor allem die sozialen Folgen der Industrialisierung für die Gesundheit und die Wohlfahrt der Arbeiter und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit die Diskussion um Technik. Diese Reflexionen führten jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Infragestellung von Technik und gesellschaftlicher Technisierung, sondern es ging um die Fragen des Besitzes an diesen "Produktionsmitteln" und ihrer sozialen Einbettung (vgl. Marx/Engels 1959). Zwischen den liberalistischen und marxistischen Systemkonzeptionen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts war die fortschrittsgarantierende Rolle der Technik nicht prinzipiell umstritten. Grundsätzliche Technikskepsis galt vielmehr als Merkmal reaktionärer Einstellungen.

In der Gegenwart, d. h. etwa seit den sechziger Jahren, hat sich diese Situation prinzipiell verändert. Vorbereitet durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (vor allem durch Marcuse) wurden weite Teile der westlichen Gesellschaften durch die erstmalig thematisierten "Grenzen des Wachstums" (Club of Rome), die gravierenden Umweltprobleme, welche der Technik und Technisierung angelastet wurden, die Diskussionen über militärtechnische Entwicklungen wie die Neutronenbombe, die GAU-Problematik in der Kernenergie, die möglich gewordenen technischen Eingriffe in die Erbanlagen durch die Gentechnik, die sich abzeichnende Möglichkeit des Klonens von Menschen, aber auch lebensweltlich näherstehende Fragen wie die Datenschutzproblematik, die zunehmende Technisierung des Gesundheitssystems oder bestimmte Entwicklungen der Reproduktionsmedizin ("Retortenbaby") tiefgehend verunsichert. Die Entkopplung von wissenschaftlich-technischem Fortschritt einerseits und kulturellem oder sozialem Fortschritt andererseits und die Auflösung der fortschrittsoptimistisch unterstellten Identität des technisch Neuen mit dem individuell und sozial Besseren - kurz: die Erkenntnis der Ambivalenz der Technik - führten zu einer Orientierungskrise im gesellschaftlichen Umgang mit Wissenschaft und Technik, deren Ende nicht absehbar ist. Ganz neue Reflexionserfordernisse stellten sich nach der Infragestellung früherer Selbstverständlichkeiten:

Diese vielseits diagnostizierte Orientierungskrise im Verhältnis von Gesellschaft und Technik kann nun in verschiedenen Terminologien beschrieben, interpretiert und bewertet werden. Mit der Wahl der Beschreibungsterminologie sind Metaphern, Zukunftsentwürfe, kulturelle Hintergründe und normative Implikationen verbunden: Beschreibungen und Bezeichnungen in diesem Feld sind nicht rein deskriptiv. Oft werden negativ besetzte Wörter zur Beschreibung verwendet: bereits die Begriffe "Orientierungsverlust" und "Orientierungskrise" machen sich die semantische Konnotation zunutze, dass weder Verluste noch Krisen wünschenswert sind. Dahinter stehen implizit kulturpessimistische Annahmen, in denen frühere Zeiten, in denen die Orientierungskrise noch nicht bestand bzw. relativ zu denen heute besagter "Verlust" diagnostiziert wird, als überlegen gegenüber der aktuellen Situation gedeutet werden. "Werteverfall" und "Traditionsverlust" gehören zum Vokabular dieser Interpretationsrichtung. Die Rede von der Risikogesellschaft (Beck 1986) kodiert, in reflektierterer Terminologie, ebenfalls diese negativen Konnotationen, wenn nämlich in der Diagnose, damit diese überhaupt diagnostische Kraft besitzt, unterstellt werden muss, dass frühere Gesellschaften keine Risikogesellschaften waren - was prima facie vorzuziehen wäre, denn niemand geht gerne ein Risiko ein, wenn es auch anders geht. [3]

Negativ besetzte Deutungen der "Orientierungskrise" sind jedoch keineswegs die einzig möglichen. Stellt man in Rechnung, dass die fortschrittsoptimistische These von der Identität des Neuen mit dem Guten oder wenigstens dem Besseren auch in früheren Gesellschaften zwar faktisch wirksam, aber deswegen noch lange nicht "richtig" war (was hier "richtig" heißen soll, bleibt der weiteren Analyse und Rekonstruktion des Rationalitätsbegriffs vorbehalten, vgl. Kap. 4.1), so ist zu konstatieren, dass diese These zwar gesellschaftliche Orientierung schaffte, allerdings auf der Basis nicht rechtfertigbarer Prämissen und ideologischer Vorannahmen. Die Krise oder gar der Verlust dieser Fortschritts"ideologie" wäre demnach nicht in Kategorien von Verlust zu verbuchen, sondern stellt einen erheblichen Gewinn dar: einen Gewinn an Entscheidungsspielräumen, einen Gewinn an Reflexionsmöglichkeiten und letztlich einen Gewinn an Rationalität im Umgang mit Technik. Der Orientierungsverlust, und diese These bildet eine der Ausgangsprämissen dieses Buches, stellt selbst ein Stück Aufklärung dar: die gesellschaftliche Emanzipation von metaphysischen geschichtsphilosophischen Systementwürfen, welche Orientierung nur schafften um den Preis, dass die einzelnen technischen Optionen nicht mehr kontextuell auf ihre Eignung und Rechtfertigbarkeit beurteilt werden konnten. Pauschale Fortschrittsunterstellungen beraubten die Gesellschaft dieser Differenzierungsmöglichkeit. Naiver Fortschrittsoptimismus ist nichts weiter als ein Stück "selbstverschuldeter Unmündigkeit". Erst der vermeintliche Orientierungsverlust bietet die Chance der Rückgewinnung reflexiver Einstellung und instrumentaler Sicht von Technik im Einzelfall. [4] Lässt sich Aufklärung einerseits als Befreiung von vorgegebenen Beschränkungen und damit als Kontingenzgewinn verstehen, so lassen sich ihre emanzipatorischen Versprechen erst einlösen, wenn nicht Ratlosigkeit in der neu entstandenen "Unübersichtlichkeit" zurückbleibt, sondern wenn Wege zu einer sinnvollen Überwindung dieser Kontingenz gewiesen werden. Schließlich müssen kollektiv bindende Entscheidungen auch in Situationen hoher Kontingenz getroffen werden. Daraus resultierende vielfältige Entscheidungsnotwendigkeiten müssen keineswegs als unangenehme Entscheidungszwänge wahrgenommen werden (mit der Konnotation, dass es vorzuziehen wäre, diese Entscheidungen nicht treffen zu müssen), sondern können als Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten angesehen werden.

Der gegenüber pessimistischen Formulierungen erheblich optimistischer konnotierte Begriff der Technikgestaltung ("shaping technology"; vgl. Bijker/ Law 1994) wird in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion über den Umgang mit Technik und Technikfolgen außerhalb des Ingenieurbereiches erst seit Beginn der neunziger Jahre verwendet. Wesentliche Verdienste um diesen Begriff haben die Technikgeneseforschung (Dierkes 1997) und das sozialkonstruktivistisch geprägte Konzept des Constructive Technology Assessment (CTA) erworben (Rip et al. 1995). Mit breitem Federstrich gezeichnet, lässt sich die gegenwärtige Diskussion um Technikgestaltung als die dialektische "Synthese" aus der "These" des Fortschrittsoptimismus - nach der explizite Reflexion von Technikgestaltung unnötig war, weil Technikentwicklung automatisch zu einer positiven Zukunftsgestaltung führte - und der "Antithese" einer Fokussierung auf die (negativen) Technikfolgen verstehen, nach der sich der gesellschaftliche Gestaltungsaspekt von Technik auf Frühwarnung und Prävention technikbedingter (teilweise apokalytischer) Gefahren beschränkte. Sowohl These als auch Antithese basieren auf kultur- oder geschichtsphilosophischen Basisannahmen, welche mit konkreter Technikentwicklung oft gar nichts zu tun haben. Der Begriff der Technikgestaltung, so der auch in diesem Buch vertretene Anspruch, markiert jedoch den Verzicht auf pauschale geschichtsphilosophische, fortschrittsoptimistische oder kulturpessimistische Annahmen und fragt stattdessen nach den Kriterien und Mitteln der konkreten Gestaltung von Technik in den jeweiligen Kontexten, aber auch nach den Bedingungen der Gestaltbarkeit von Technik in der Gesellschaft und diesbezüglichen Hindernissen. Es geht in der nachmetaphysischen Situation (Habermas 1988a) nicht mehr um die Befreiung des Menschen von den Zwängen der Erwerbsarbeit durch Technik (Marx, Bloch) oder um die "Erlösung" des Menschen durch die Tätigkeit der Ingenieure (Dessauer 1926), aber auch nicht um die beklagte "Eindimensionalität des Menschen" in der technisierten Welt (Marcuse 1967), um die "Antiquiertheit des Menschen" gegenüber der von ihm entwickelten Technik (Anders 1964) oder um Befürchtungen eines technikbedingten Endes der Menschheitsgeschichte (Jonas 1979) - wiewohl durch diese Überlegungen wesentliche Herausforderungen an Technikgestaltung benannt wurden, die auch heute noch teilweise aktuell sind. [5] Stattdessen geht es um die Gestaltung aktueller und konkreter technischer Entwicklungen, z. B. im Transportbereich, in der Informationstechnik, in der Raumfahrt oder in der Medizin, d. h. um die Möglichkeiten und Grenzen der gesellschaftlichen Aneignung dieser Techniken, der Bedingungen ihrer erfolgreichen Enkulturation, um die Anforderungen an staatliche Regulierung etc. und - als Aufgabe der technikbegleitenden Reflexion - um die Konstitution von Kriterien und Verfahren zur Beantwortung dieser Fragestellungen in ihren jeweiligen Kontexten.


[1] Dieses "Verlorengegangensein" wird oft in einem Ton des Bedauerns geäußert, in dem Sinne, dass frühere Zeiten es mit der Technik einfacher gehabt hätten. Demgegenüber soll im vorliegenden Buch die These vertreten werden, dass dieser Orientierungsverlust selbst ein Stück Aufklärung darstellt (dazu s. u.).

[2] Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist die Endlagerproblematik radioaktiver Abfälle, welche für viele tausend Jahre nachfolgende Generationen zumindest durch dauernde Sorgfaltspflichten und dadurch entstehende Kosten belasten, wenn nicht gar mit Risiken (Kalinowski/Borcherding 1999).

[3] So könnte die Risikogesellschaft, positiv gewendet, als eine Entscheidungs- oder Optionengesellschaft beschrieben werden, in der gegenüber früheren Gesellschaften die Auswahlmöglichkeiten zwischen Optionen um Größenordnungen gesteigert sind. Das Treffen der Auswahl ist eine Entscheidung - mit dem Risiko der Fehlentscheidung. Dass Beck selbst der kulturpessimistischen Lesart nicht zuneigt, zeigt seine Rede von der Wiedererfindung des Politischen (Beck 1997).

[4] Diese Sicht ist selbstverständlich nur berechtigt, wenn die Orientierungskrise nicht zu einer gesellschaftlichen Lähmung führt (worauf Ropohl 1991 mit Recht hinweist). Es kommt, wie immer in Krisensituationen, darauf an, wie damit umgegangen wird.

[5] Viele Befürchtungen hinsichtlich der zunehmenden Mediennutzung (Fernsehen, Computer, Internet), etwa die Vereinsamung von Jugendlichen betreffend, könnten auch in der Terminologie des "Eindimensionalen Menschen" verfasst werden. Oder die befürchtete Abkopplung vieler älterer Menschen von wesentlichen Teilen der zukünftigen "Wissensgesellschaft" kann sicher auch als Beleg für die "Antiquiertheit des Menschen" gedeutet werden. Arbeiten dieses Typs haben daher, auch wenn sie spekulativ und einseitig sein mögen, eine wichtige Funktion für die Technikdiskussion, indem sie pointierte und provokative Fragen aufwerfen.


Prof. Dr. Armin Grunwald
Forschungszentrum Karlsruhe
Institut für Technikfolgenabschätzung
und Systemanalyse (ITAS)
Postfach 3640
D-76021 Karlsruhe
   oder
Hermann-von-Helmholtz-Platz 1
D-76344 Eggenstein-Leopoldshafen
Tel.: +49 (0) 721 / 608 - 22500
Fax: +49 (0) 721 / 608 - 24806

Internet: Homepage von Armin Grunwald


www.itas.kit.edu     [ITAS-Literatur]     [Zum Seitenanfang]
Stand: 05.02.2001 - Bemerkungen und Kommentare bitte an: armin.grunwald@kit.edu