Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens

Nico Stehr
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1615), ISBN: 3-518-2915-3, 327 Seiten, 13,00 Euro



Vorwort Buchcover

Bedenken und Ängste über die sozialen Folgen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien werden nicht erst heute laut. Dies gilt auch für die außerordentlichen Versprechungen aller Art, die Menschheit werde durch Wissenschaft und Technik in den Genuß enormer fortschrittlicher Gewinne kommen. Es lassen sich aber überzeugende Argumente vorbringen, daß in der öffentlichen Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaften eine neue modeme Phase erreicht ist. Das erste kontrollierte gentechnische Laborexperiment fand 1972 statt. Der erste außerhalb des Körpers einer Frau gezeugte Mensch wurde 1978 geboren. Die gegenwärtige kontroverse Diskussion um embryonale Stammzellen, Neurogenetik, Xenotransplantationen oder reproduktives Klonen macht beispielsweise deutlich, daß die Frage nach den sozialen Voraussetzungen und Folgen ungebremst expandierender (natur)wissenschaftlicher Erkennmisse unter neuartigen Voraussetzungen zur dringlichen Problematik der gesellschaftlichen Tagesordnung und des politischen Alltags wird.

Nicht selten mündet diese Diskussion in den Ruf nach einer Überwachung und bewußten Steuerung des Wissens. Wie kann man vermeiden, so wird zunehmend gefragt - und hiermit sind keinesfalls nur die Folgen der Nukleartechnologie gemeint -, daß die unglaublich erfolgreichen modemen Wissenschaften und Techniken uns auslöschen? Natürlich ist mit diesen sorgenvollen Fragen ein bestimmtes Eigenverständnis verbunden, das wir von unserem Leben haben. Es wäre aber zu leicht, zu glauben, man könne die Forderungen nach Intervention als irrationale Sorge oder als antimoderne Reaktion erledigen.

Doch welche Erkenntnisse sollten überwacht werden, wie sollen sie gesteuert werden, und wer ist verantwortlich? Und welches Wissen ist notwendig, um Wissen zu überwachen? Muß man neue Erkenntnisse und Technologien so regulieren, wie man dies zum Beispiel im Fall des öffentlichen Verkehrswesens tut? Lautet die Antwort nein, wäre wichtig zu wissen aus welchen Gründen. Ist die Antwort eher zustimmend, wäre zu hinterfragen, um welche Erkenntnisse es geht und in welchem Interesse so entschieden wird. Werden wissenschaftliche Erkenntnisse (wieder) zu einem privaten Gut? Es muß oder es soll gehandelt werden. Aber wie ist es um die Identität der handelnden Akteure bestellt? Und wie organisiert man eine Überwachung des Wissens? Die Wissenspolitik wird die politische Landschaft verändern.

Mich interessieren die Grundlagen der gegenteiligen Standpunkte in der Debatte zur Überwachung des Wissens wie auch die Wege und Chancen einer Regulierung des Wissens in modernen, und das heißt zunehmend: zerbrechlichen Gesellschaften. Entscheidend für die Chancen und Grenzen der Wissenspolitik ist der kulturelle, soziale, politische und ökonomische Kontext, häufig auf der Makro- und nicht der Mikroebene, wie zum Beispiel Laboratorien, Experimente oder Theorien. Der relevante gesellschaftliche Kontext verändert sich rapide. Angesichts des Herrschaftsverlusts der großen gesellschaftlichen Zweckinstitutionen lassen sich aber keine zuverlässigen Zukunftsszenarien herausarbeiten. Dennoch präsentieren sich die großen gesellschaftlichen Institutionen auch in diesem Kontext nicht als Mangelwesen, sondern immer noch als handlungsfähige Systeme der gesellschaftlichen Steuerung.

Ein wesentlicher Teil dieser Studie wurde während eines Fellowship im Hanse Wissenschaftskolleg, Delmenhorst, und im Kulturwissenschaftlichen Institut, Essen, fertiggestellt. Die produktive Atmosphäre in den Kollegs war dieser Arbeit sehr förderlich.




Stand: 07.08.2003 - Kommentare an:     Nico Stehr