Neue Formen wissenschaftlicher Produktion: Transdisziplinäre Forschung

Bechmann, G.
Vortrag auf der internationalen Konferenz, Akademie der Wissenschaften, Moskau, Russland, 20.-22. Januar 2003


Abstract

In seinem Aufsatz "Die Zeit des Weltbildes" sieht Heidegger die Verwandlung der Wissenschaft in Forschung als eine wesentliche Erscheinung der Neuzeit. Die Wissenschaft orientiert sich nicht mehr an dem Ideal einer letzten und vollständigen Erkenntnis, die ein Fundament unerschütterlichen Wissens bildet, sondern richtet ihren Erkenntnisprozess auf eine laufende theoretisch und methodologisch gesteuerte Analyse und Aneignung der Realität aus. Wissenschaft wird zur Suche nach immer neuen Daten und bisher nicht bekannten kausalen oder statistischen Zusammenhängen, die wiederum zum Gegenstand von weiterer Forschung gemacht werden können. Erkenntnis ist in diesem Sinne notwendigerweise provisorisch, vom erreichten Forschungsstand abhängig und kann sich in Zukunft ändern. Das durch Forschung erzeugte Wissen steht unter dem "Prinzip der Revidierbarkeit" (Peirce). Popper hat hieraus die Konsequenzen gezogen und die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr an das Kriterium der Wahrheit, sondern das der Falsifikation, einem methodischen Prinzip, gebunden.

Der Wandel von Wissenschaft zur Forschung impliziert auch, dass dieser Prozess organisiert werden muss. Forschung ist Betrieb (Heidegger). Organisation wird notwendig, um den prinzipiell offenen Prozess der Forschung zu strukturieren und in einzelne bearbeitbare Abschnitte zu zerlegen. Dies geschieht sowohl durch die Differenzierung in Disziplinen (Stichweh 1994) als auch durch die Entwicklung und Einführung komplexer und formaler Prozeduren, was sich beispielsweise am Übergang von der Universitätsforschung zur Big-Science-Forschung demonstrieren lässt.

Problemorientierte Forschung ist notwendigerweise interdisziplinär oder sogar transdisziplinär. Aus dieser Perspektive ist unter Inter- oder Transdisziplinarität nichts anderes zu verstehen, als die Koordination von Entscheidungsprozessen zur Organisation und Integration von Wissensbeständen und Forschungsaktivitäten. Diese Entwicklung läuft darauf hinaus, dass der Forschung nicht nur Entscheidungen darüber abverlangt werden, wie die Welt wissenschaftlich zu erfassen ist, sondern auch darüber, was man wissen möchte und was im Moment wichtig ist. Durch die Organisation der Forschung wird also die Selektivität wissenschaftlich erzeugten Wissens sichtbar. Wissen hängt von seinen organisatorischen Kontextfaktoren ab und ist selbst entscheidungsabhängig. Im Vortrag wird die Umweltabhängigkeit, den besonderen methodologischen Charakter und die Organisierbarkeit der transdisziplinären Forschung diskutiert.



Aktualisiert am: 05.02.2003 - Kommentare an:     Gotthard Bechmann