Rationalität heute -
Vorstellungen, Wandlungen, Herausforderungen

Gerhard Banse, Andrzej Kiepas (Hrsg.):
Münster: LIT 2002, ISBN: 3-8258-6186-4, 304 Seiten, 29,90 Euro

Inhalt  [hier]


Vorwort Buchcover

Bücher über "Rationalität" füllen sicherlich bereits größere Bücherregale. Ist es deshalb notwendig, dem ein weiteres Buch hinzu zufügen? Ein Verweisen auf die "Kraft des Faktischen" - das Buch existiert bereits, sein "in-der-Welt-sein" muss nun nicht mehr gerechtfertigt werden - ist als Antwort sicherlich ungeeignet. Mehr noch: Es ist keine Antwort, zumindest bei einem Buch über Ra-tionalität, denn dann erwartet man eine Begründung mit rationalen Mitteln. Was also lässt sich als "Rechtfertigung" vorbringen? In erster Linie ist es der Inhalt des Buches, sind es die Überlegungen in siebzehn Beiträgen. Zusätzlich seien aber noch drei Grunde angeführt.

Erstens: Das Thema "Rationalität" gehört zu den philosophischen Bereichen, die eine lange Tradition haben, wenn auch oft nicht unter dem Stichwort "Rationalität", denn das ist erst wesentlich jüngeren Datums. Es könnte deshalb die Frage gestellt werden, ob Philosophie nicht bereits einen umfassenden Fundus an Erkenntnissen zu "Rationalität" bereithält bzw. ob diese nicht zwischenzeitlich "umfassend" und "abgeschlossen", Erkenntniszuwächse somit nur marginal seien. Gegenargument ist der Verweis auf die "Permanenz" philosophischer Reflexion, in der systematischen Philosophie als philosophia perennis konzeptualisiert. Sie verdeutlicht die Notwendigkeit, sich den scheinbar alten philosophischen Fragen und Problemen immer wieder neu zuzuwenden, Erreichtes zu überprüfen, Forschungsperspektiven zu verändern und Neues zu generieren. Die Fragen nach "demselben" sind unter veränderten Umständen stets aufs Neue zu stellen und zu beantworten. Zu den sich stets wandelnden Umständen im Zusammenhang mit "Rationalität" gehören in erster Linie der Entwicklungstand des Wissens, der Wissenschaften und der Technik (als "vergegenständlichtes" Wissen). Deren Dynamik, deren quantitative Entfaltung und qualitative Wandlung bilden einen entscheidenden Hintergrund des Umstandes, dass "Rationalität" thematisiert wird bzw. werden muss.

Zweitens: Es hat den Anschein, als wenn einige gegenwärtig sich vollziehende - wenn auch unterschiedlich genannten - Veränderungen einen durch- bzw. umbruchartigen Charakter haben. Es wird deshalb sehr oft darauf hingewiesen, dass die postmoderne Perspektive gleichzeitig die Gestaltung einer neuen gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung bedeutet. Das in der Neuzeit entstandene Rationalitätsverständnis, das auch der Wissenschafts- und der Technikentwicklung zugrunde lag bzw. noch liegt, hat heute in bezug auf die globalen Dimensionen und die globalen Probleme seine Grenzen erreicht. Es erweist sich vielfach als inadäquat. Eine "postmoderne Perspektive" sollte deshalb auch Entstehung wie Begründung eines neuen Rationalitätsverständnisses einschließen. Die Entwicklung der Informationstechnologien und die Prozesse der Globalisierung sind Indizien der gegenwärtigen Veränderungen. Sie sind wechselseitig miteinander verbunden und stellen für heutigen Menschen neuartige Herausforderungen dar, die bestimmte Antworten und Handlungen (einschließlich Unterlassungen!) erfordern. Der komplexe Charakter der heutigen Veränderungen, die zugleich eine differenzierte Binnenstruktur besitzen, ist die Ursache dafür, dass man schwerlich eine Kategorie finden kann, die geeignet scheint, die unterschiedlichen Aspekte der ablaufenden Prozesse am besten und am umfassendsten zu beschreiben. Es scheint jedoch so zu sein, dass diese Rolle durch die Kategorie "Rationalität" erfüllt werden könnte. Man kann sie sinnvoll sowohl in bezug auf die Ganzheit der ablaufenden Prozesse als auch gleichzeitig in Verbindung mit bestimmten Bereichen menschlicher Aktivitäten nutzen. Die Attraktivität der Kategorie "Rationalität" hängt auch damit zusammen, dass sie sich mit der heute verlaufenden Diskussion über die Rolle der menschlichen Vernunft verbindet. Hierbei wird das traditionelle (eigentlich das moderne) Verständnis von Vernunft in Frage gestellt. Das in vielen der heutigen Diskussionen aufscheinende Problem der Subjektivität des Menschen hängt eng mit der Frage nach seiner Rationalität zusammen.

Drittens: Einen besonderen Bereich, in dem sich viele Probleme der Rationalität widerspiegeln, bilden in bezug auf die zivilisatorische Rolle heute Wissenschaft und Technik. Sie stellen nämlich ein Potential für viele und sowohl positiv als auch negativ bewertete Folgen dar, die sowohl lokalen als auch globalen Charakter besitzen. Wenn man gegenwärtig auch auf die sogenannte Krise der traditionellen Legitimation von Wissenschaft und Technik verweist, dann sind damit sowohl normative als auch prozedurale Aspekte dieser Legitimation betroffen. Heutige globale Wandlungen sind eine Ursache für Veränderungen im Bereich von Wissenschaft und Technik. Die "postmoderne Epoche" und die mit ihr verbundenen Mensche- und Weltbilder beeinflussen auch den Bereich der Rationalität von bzw. in Wissenschaft und Technik. Diese Rationalität bildet heute auf jeden Fall ein wichtiges Problem, dem man sich in unterschiedlichen Weisen zuwenden muss.

Diese Gründe bewogen das Institut für Philosophie der Schlesischen Universität Katowice (Polen) und das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Forschungszentrums Karlsruhe (Deutschland), eine Konferenz zum Thema "Rationalität heute - Wandlungen, Veränderungen, Herausforderungen" mit dem Ziel vorzubereiten, die Vielfalt von Rationalitätskonzepten in der Philosophie generell, bezogen auf Wissenschaft und Technik im besonderen darzustellen, deren Probleme, Anwendungsmöglichkeiten und daraus folgende Herausforderungen aufzuweisen und in kritischer Diskussion zu erörtern. Diese Konferenz wurde dann im September 2001 in Ustron (Polen) durchgeführt. Der Einladung der Veranstalter waren mehr als vierzig Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und aus Polen, aus Österreich, aus der Slowakischen und aus der Tschechischen Republik gefolgt. Plenarvorträge und Arbeitsgruppenbeiträge vermittelten ein Bild der aktuellen Bemühungen, "Rationalität" rational "auf den Begriff" zu bringen. Das vorliegende Buch enthält eine Auswahl dieser Überlegungen. Die Anordnung der Texte folgt den zwei thematischen Arbeitsgruppen der Konferenz "Rationalität - Tradition und heutige Probleme" und "Rationalität in Wissenschaft und Technik - normative Grundlagen und epistemologische Aspekte". Der inhaltliche Bogen spannt sich so von Rationalitätsvorstellungen in der jüngeren Philosophiegeschichte über deren Wandlungen in der Gegenwart bis hin zu aktuellen Herausforderungen. Die Beiträge sind weder ein Verdikt gegen Rationalität noch eine bloße Apologie der Rationalität, sondern ihnen ist das Bemühen gemeinsam, vor dem Hintergrund konzeptioneller Einseitigkeiten, Engführungen und Verabsolutierungen von Rationalitätskonzepten bzw. übertriebener Erwartungen und Ansprüchen an Rationalitätskonzepte zu einer differenzierteren Sichtweise beizutragen, wohl bemerkend, dass einerseits für diese Lebenswelt Rationalität wohl wichtig, aber nicht alles ist - und andererseits in dieser Welt zwar vieles, aber nicht alles Rationalität ist.

Die aufgenommenen Beiträge sind repräsentativ für die Konferenz, repräsentativ sowohl hinsichtlich Problemsichten als auch hinsichtlich der vertretenen Länder. Vielleicht ist das eine vierte "Rechtfertigung" für das "In-der-Welt-sein" dieses Buches: Es ist das erste Buch zur Thematik "Rationalität", das nicht nur aus einer deutsch-polnischen Kooperation hervorgegangen ist, sondern das zugleich Beiträge von Autorinnen und Autoren aus fünf Ländern, darunter drei osteuropäischen Ländern enthält.

Es ist den Herausgebern ein Bedürfnis, sich bei all jenen zu bedanken, ohne die dieser Band nicht zustande gekommen wäre: erstens bei den Autoren, die bereit gewesen sind, den zahlreichen Wünschen der Herausgeber - z. B. hinsichtlich Terminstellung, Manuskriptumfang, Präzisierungen - nachzukommen; zweitens bei Frau Gabriele Kaufmann (Forschungszentrum Karlsruhe, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse), bei der die Gestaltung dieses Bandes in besten Händen lag; drittens beim LIT-Verlag für das Engagement bei der Drucklegung.

Karlsruhe und Katowice, Juni 2002

Gerhard Banse
Andrzej Kiepas


Kontakt:

Prof. Dr. Gerhard Banse
Forschungszentrum Karlsruhe
Institut für Technikfolgenabschätzung
und Systemanalyse (ITAS)
Postfach 3640
D-76021 Karlsruhe
   oder
Hermann-von-Helmholtz-Platz 1
D-76344 Eggenstein-Leopoldshafen

Tel.: +49 (0) 721 / 608 - 23978
Fax: +49 (0) 721 / 608 - 24806

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Stand: 02.08.2002 - Kommentare und Bemerkungen an:     Gerhard Banse