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Erfahrung mit der Telekooperation im MISP-Projekt "Telearbeit"

Erschienen in: Zwierlein, E.; Isenmann, R. (Hrsg.): Virtuelle Welten und Teleworking: Herausforderungen - Chancen - Risiken
Aachen: Shaker 1998, S. 181-203 (Modellierung im Interdisziplinären Studienprogramm, Band 6)


Ulrich Riehm
Forschungszentrum Karlsruhe - Technik und Umwelt
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
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Inhalt

1. Einleitung
2. Das MISP-Projekt "Telearbeit" und das Konzept der methodisch kontrollierten Eigenerfahrung
3. Zum Stand der Forschung zur computervermittelten Kommunikation
3.1 Grundsätzliches
3.2 Anwendungsfelder
3.3 Eigenschaften der Kommunikation in den neuen Medien
3.4 Soziale und gesellschaftliche Folgen
3.5 Aufgabenangemessenheit und Effizienz
3.6 Aneignungsprozesse
4. Das Experiment
4.1 Teilnehmer, zeitlicher Ablauf und Datenmaterial
4.2 Ergebnisse: Beteiligung, zeitlicher Ablauf, Inhalte
4.3 Diskussion
5. Literatur
6. Biobibliographie

1. Einleitung

Die Nutzung von Computernetzen zum Zwecke der Kommunikation und Kooperation ist keine Erfindung der 90er Jahre, sondern wird schon seit über 20 Jahren erprobt, erforscht und diskutiert. In seinem 1982 erschienenen Buch "The Network Revolution" benennt Jacques Vallee die Berlinkrise von 1961 als einen Auslöser der Idee der Computerkonferenz (Bei Vallee findet sich die Jahresangabe 1951, was vermutlich ein Schreibfehler ist, denn 1951 gab es keine Berlinkrise. [Vallee 1984, S. 152]). Bekanntlich koordinierte dann die ARPA (Advanced Research Program Agency) des U.S. Department of Defense in den 60er und 70er Jahren diejenigen Aktivitäten, aus denen sich dann das erste Computernetzwerk, das Arpanet, entwickelte. Bereits 1968 sprachen die Forschungsdirektoren des ARPA Licklider und Taylor von neuartigen "Gemeinschaften", die durch die Computernetze entstünden: "What will on-line interactive communities be like? ... They will be communities not of common location, but of common interest" (zitiert nach [Rheingold 1993, S. 24]).

Die Debatte um den Wandel von "Kommunikationsgemeinschaften" durch die neuen Technologien ist in den 90er Jahren erneut entbrannt. Rheingold legt 1993 sein weithin beachtetes Buch "Virtual Community" vor. Die Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften widmet 1994 dem "Wandel der Kommunikationsgemeinschaft" ihre siebte Diskussionseinheit [Bülow u.a. 1994]. Eine große empirische Studie über die Mailboxszene in Deutschland wird 1995 von Wetzstein u.a. vorgelegt. Höflich analysiert 1996 die Konstitution "elektronischer Gemeinschaften" Diese neue Aktualität des Themas hat nicht zuletzt mit der rasanten Ausbreitung des Internet zu tun, dessen Wurzeln im Arpanet der 70er Jahre zu finden sind. Die ursprünglich in globale, militärstrategische Überlegungen eingebetteten Entwicklungen der Computernetze haben diesen Kontext heute weitgehend abgestreift, und kaum einer hatte sich in den 70er Jahren vorstellen können, welche Dynamik die Computernetz-Kommunikation, z.B. mit der Etablierung des World Wide Web Anfang der 90er Jahre, gewinnen konnte.

So stellt die breite Verfügbarkeit computer- und netzbasierter kommunikativer Anwendungen die Frage nach dem Wandel gesellschaftlicher Kommunikation erneut. Dabei kommt es darauf an, den "Sinnüberschuß" [Weingarten 1994] , der mit dem Auftauchen neuer Technologien typischerweise einhergeht, also die Versprechungen, was alles mit der neuen Technologie zu leisten sei, kritisch zu hinterfragen, und die soziale Aneignung der neuen Technologien, ihre Veralltäglichung, konkret zu untersuchen.


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2. Das MISP-Projekt "Telearbeit" und das Konzept der methodisch kontrollierten Eigenerfahrung

Der "Modellversuch Interdisziplinäres Studienprogramm" (MISP) an der Universität Kaiserslautern stellt eine besondere Form der universitären Ausbildung dar. Seine besonderen Charakteristika sind die interdisziplinäre Behandlung komplexer Fragestellungen, der Praxisbezug, der nicht zuletzt durch die außeruniversitären Kooperationspartner hergestellt werden soll, und die relativ autonome, projektorientierte Arbeit von Studentengruppen, die sich typischerweise aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zusammensetzen. In dem im Sommersemester 1996 durchgeführten MISP-Projekt "Telearbeit", an dem der Autor dieses Beitrags, neben Michael Detjen vom DGB Kaiserslautern, als einer der externen Kooperationspartner beteiligt war, versuchten wir uns dem Thema auf drei Ebenen zu nähern: theoretisch, empirisch und praktisch. Die Ergebnisse der theoretischen und empirischen Arbeit sind im Bericht der Projektgruppe enthalten (vgl. in diesem Band [Besser u.a. 1997]) . Hier geht es um eine Auswertung der praktischen Erfahrungen mit der computerunterstützten Kommunikation, die im Rahmen der Projektarbeit erprobt wurde.

Der Einsatz von vernetzten Computern zur Kommunikation innerhalb der Projektgruppe und zur Koordination der Projektarbeit lag beim Thema "Telearbeit" nahe. Sind diese Technologien doch eine wesentliche technische Basis für die Telearbeit. Was man normalerweise erschwerend für die Zusammenarbeit ansehen würde, daß nämlich die beiden Kooperationspartner nicht an der Universität, in einem Fall nicht einmal in Kaiserslautern ansässig waren und somit nicht für eine regelmäßige direkte Kommunikation zur Verfügung standen, konnte hier als positive Randbedingung eines praktischen Experiments genutzt werden: die Etablierung einer Projektgemeinschaft "not of common location, but of common interest".

Der besondere Wert, den der praktische Umgang mit computerunterstützten Kommunikationssystemen im Rahmen eines solchen Studienprojekts hat, braucht kaum weiter begründet zu werden. Durch die eigene Praxis wird nicht fremdes Wissen reproduziert, sondern neues Wissen authentisch erarbeitet und erfahren. Die Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrung ersetzt zwar nicht das Studium von Literatur und die Erforschung der Empirie im Feld, ergänzt diese Informationsquellen aber um eine ganz eigene Dimension. Wenn man die Haken und Ösen elektronischer Kommunikation am eigenen Leib erfahren hat, kann man die Potentiale und Restriktionen realistischer einschätzen, und vor diesem Erfahrungshintergrund präzisere Fragen für die empirische Forschung entwickeln und die Literatur kritischer rezipieren.

Doch erst indem die praktische Erfahrung über das spontane Erleben hinaus dokumentiert und ausgewertet wird, kann es gelingen, den Wert dieser Praxis auch für die wissenschaftliche Analyse fruchtbar zu machen. Bleibt es bei der spontanen Erfahrungssammlung, gibt es zu wenig Schutz gegen Verdrängungs- und Vergessensprozesse, die die gewonnenen Erkenntnisse verzerren.

Solche, die eigene Praxis einbeziehenden und systematisch reflektierenden Verfahren sind schon immer in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen angewendet worden. Als Beispiel sei der "selbst-soziographische Versuch" zum Wandel gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse von Theodor [Geiger 1963] angeführt. Geiger, ein bedeutender Sozialwissenschaftler in den 30er bis 60er Jahren dieses Jahrhunderts, führte in den Monaten Juni und Oktober 1946 sowie April 1947 ein detailliertes, minutengenaues Tagebuch über alle seine Bewegungen im sozialen Raum. Motiviert wurde diese Untersuchung von der These der Anonymität und Atomisierung des Massendaseins. Entsprechend wurde das Material der Selbstbeobachtung in erster Linie nach der Art und Dauer der Sozialkontakte ausgewertet. Geiger erkannte natürlich die begrenzte Reichweite der Ergebnisse einer solchen Fallstudie, gab aber ein Verfahren an (Verfahren der "Peilung"), "mit deren Hilfe aus unserer case-study etwas mehr herausgeholt werden kann, als ein Aufschluß über den - an sich völlig gleichgültigen - individuellen Daseinsverlauf unserer VP" [Geiger 1963, 96] . Vereinfacht gesagt besteht dieses Peilungsverfahren aus Plausibilitätsprüfungen und Gegenprüfungen des einen untersuchten Falls mit anderen Sozialtypen, zu denen man zwar keine exakten quantitativen Werte kennt, aber begründete Vermutungen über positive oder negative Abweichungen zum untersuchten Fall haben kann. Im Ergebnis enthüllt Geiger die These vom atomisierten Massendasein als Klischee, ohne ihr jedoch einen Kern Wahrheit völlig abzusprechen, der aber nicht an der Art der Sozialbeziehungen des einzelnen Menschen nachweisbar ist, sondern eher an dessen Einbindung und Ausgeliefertsein in gesellschaftliche Großorganisationen.

In einer solchen Forschungstradition steht auch das am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Forschungszentrums Karlsruhe entwickelte und erprobte Konzept der "methodisch kontrollierten Eigenerfahrung". Wir verstehen darunter eine Form empirischer Feldforschung, in der die Mitglieder einer Projektgruppe in ihrer normalen Arbeitsumgebung echte Alltagsaufgaben bearbeiten und dabei die zu untersuchende Technik anwenden. Begleitende Selbstbeobachtungsprotokolle bzw. andere, teilweise auch automatisierte Formen der Datenerfassung bilden die Grundlage für die Datenanalyse, die nach der Feldphase, in einem abgetrennten Untersuchungsschritt, durchgeführt wird. Die methodisch kontrollierte Eigenerfahrung wurde in den Projekten PEP (Projekt Elektronisches Publizieren) und PEB (Projekt Elektronisches Buch) im Zeitraum von 1986 bis 1991 in mehreren Anwendungsbereichen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien angewendet. So beim wissenschaftlichen Schreiben mit dem Computer, bei der Nutzung großer, externer Volltextdatenbanken und beim "Lesen" elektronischer Bücher. Für die methodischen Details und die Untersuchungsergebnisse kann hier nur auf die Literatur verwiesen werden (für einen Überblick und die methodische Diskussion [Riehm und Wingert 1996] , für die Einzelergebnisse [Riehm u.a. 1992] sowie [Wingert u.a. 1993] ). Im Kontext des MISP-Projekts "Telearbeit" bot sich sowohl an, elektronische Kommunikationsdienste im Rahmen der Projektarbeit selbst anzuwenden, als auch diesen Prozeß einer gesonderten Analyse zu unterziehen. Letzteres ist Gegenstand dieses Beitrags.


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3. Zum Stand der Forschung zur computervermittelten Kommunikation

3.1 Grundsätzliches

Es kann im Rahmen dieses Beitrags nicht darum gehen, eine umfassende und erschöpfende Übersicht über den Stand der Forschung zur computervermittelten Kommunikation zu geben. Die Literatur hierzu ist mittlerweile recht umfangreich und ausdifferenziert. Auf einige Themenfelder und Diskussionslinien soll jedoch hingewiesen werden.

Man kann Kommunikation zunächst grob einteilen in die direkte, persönliche ("face-to-face"-Kommunikation) und die technisch vermittelte Kommunikation. Zur technisch vermittelten Kommunikation gehören z.B. die mündliche Kommunikation über das Telefon und die hier interessierende computerunterstützte Kommunikation - in der angelsächsischen Literatur üblicherweise als "computer mediated communication" ("CMC") bezeichnet. Letztere wird üblicherweise auf der Zeitdimension nach synchronen und asynchronen und nach der Anzahl der beteiligten Personen nach bilateralen und multilateralen Kommunikationsformen unterschieden. Wie die aus [Wetzstein u.a. 1995, 58] übernommene Tabelle zeigt, lassen sich damit die derzeit wichtigsten elektronischen Kommunikationsdienste in ein Vierfelderschema einordnen.

synchron asynchron
bilateral Chat Mail
multilateral Multi-User-Chat News
Tabelle 1: Beispiele für Kommunikationsdienste in Computernetzen

Damit ist das tatsächlich vieldimensionale Feld der Kommunikationsformen längst nicht erschöpfend charakterisiert (vgl. etwa zu einem umfassenden Typologieversuch [Merten 1977] , zu weiteren Differenzierungen etwa [Schlese 1993, 443] oder [Baym 1995, 143]) . Weitere wichtige Unterscheidungen beziehen sich auf den Modus der Kommunikation, insbesondere den Unterschied zwischen verbaler und non-verbaler und zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation. Schnell ergeben sich eine Vielzahl von Erweiterungen des obigen Vierfelderschemas. Z.B. ist computervermittelte synchrone Kommunikation nicht nur als schriftbasierter "Chat" denkbar, sondern auch als Audio- bzw. audiovisuelle Kommunikation (Desktop-Video-Kommunikation).

Man sieht schon daraus, daß die Frage nach den Wirkungen technisch vermittelter bzw. computerunterstützter Kommunikation so einfach nicht zu stellen ist, denn wir haben es mit einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Techniken zu tun [Bülow u.a. 1994, 566] . Die Frage nach den Wirkungen ist aber auch deshalb schwer zu beantworten, weil die Technik immer in ein komplexes Geflecht von Anwendungsbedingungen eingepaßt wird, aus dem die Wirkung des einen Faktors Technik kaum zu isolieren ist. Nach [Baym 1995] sind die wesentlichen Faktoren, die die Nutzung und die Wirkungen computerunterstützter Kommunikationssysteme beeinflussen, der externe Kontext, die zeitliche Koordinierung, die Eigenschaften des Systems, die Anwendungszwecke und die Charakteristik der Teilnehmer. Damit sind nur die hauptsächlichen Rahmenbedingungen genannt, die sowohl ergänzt als auch weiter untergliedert werden müßten. Auch darf man sich die Entscheidung zur Nutzung eines Kommunikationsmediums nicht als eine Entscheidung in grundsätzlichen Alternativen vorstellen. Es werden eher pragmatische Ad-hoc-Entscheidungen zwischen sich ergänzenden und überlappenden Medien getroffen.


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3.2 Anwendungsfelder

Die wichtigsten Anwendungsfelder computerunterstützter Kommunikationssysteme sind:

Während anfänglich die aufgabenorientierte Kommunikation in Organisationen im Vordergrund der Forschung stand und dabei die Effizienz der Kommunikation im Vordergrund stand [Caldwell und Taha 1993] , [Metz 1994, 33ff], [Walther 1996] , wird heute verstärkt die Nutzung von Computernetzen für die private Kommunikation diskutiert (vgl. etwa die empirische Studie von [Wetzstein u.a. 1995]) . Dies hat mit der Diffusion von Computer- und Telekommunikationstechniken in die Privathaushalte zu tun, hängt aber auch von einer bestimmten Sichtweise auf die neuen Kommunikationsmedien ab. Anfänglich wurde postuliert, daß aufgrund der begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten in den computerunterstützten Kommunikationssystemen, diese zwar für die sachlichen Themen der aufgabenorientierten Kommunikation geeignet seien, für die emotionaleren Themen der privaten Kommunikation dagegen nicht. "The upshot of these findings for the social potential of CMC is well summarized by Baron (1984), who writes that computer-mediated communication - at least as currently used - is ill-suited for such social uses of language" [Baym 1995, 140] . Die reale Entwicklung hat dagegen gezeigt, daß diese Kommunikationssysteme durchaus in sozialen und persönlichen Zusammenhängen erfolgreich eingesetzt werden können. Bei der aufgabenorientierten Kommunikation haben sich im Lauf der Jahre weitere, eigenständige Anwendungs- und Forschungsfelder wie "computer supported cooperative work" (CSCW) oder "group decision support systems" (GDSS) [Walther 1996] herausdifferenziert.

Publizieren im herkömmlichen Sinne ist eine weitgehend einseitig gerichtete Kommunikationshandlung. Die auch im herkömmlichen System möglichen kommunikativen "Rückmeldungen" - wie private Briefe an den Autor oder die Autorin, Leserbriefe an die Zeitung, Repliken in einer wissenschaftlichen Zeitschrift oder noch indirekter, die Verarbeitung der Inhalte einer rezipierten Publikation in eigenen Beiträgen durch eine bestimmte Form der Bezugnahme (referierend, verweisend, zitierend) - sind relativ selten und wenig direkt. An diesem tatsächlichen oder vermeintlichen Defizit setzen u.a. die Überlegungen und Experimente zu elektronischen, netzgestützten Publikationssystemen an, die z.B. mit den beiden schon fast klassisch zu nennenden Experimenten EIES in den USA (bereits in den 70er Jahren) und BLEND in England (ab 1980) auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken können [Hiltz und Turoff 1978], [Pullinger 1986], [Gresham 1994] . Die Möglichkeit des direkten kommunikativen Anschlusses an Publikationen "im gleichen Medium" sind seither Standardbegründungen für die neuartigen Potentiale elektronischer Zeitschriften (vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen [Böhle 1997]) . Die konkrete Erfahrung zeigt allerdings, daß die kommunikativen Erweiterungen elektronischer Publikationen nicht in jedem Fall auf einen entsprechenden Kommunikationsbedarf treffen [Riehm u.a. 1992, 295ff].

Schließlich sei auf den ebenfalls schon lange diskutierten Bereich des Lehrens und Lernens über Computernetze hingewiesen, in dem heute mit dem Programm "Schulen ans Netz" oder der Etablierung "virtueller Universitäten" ein neuer Boom feststellbar ist. Die klassische Lehr-/Lernsituation in Schulen, Universitäten und Weiterbildungsstätten ist gekennzeichnet durch eine direkte, "face-to-face"-Kommunikation. Aus unterschiedlichsten Gründen, z.B. Effizienzgründen, Erreichen neuer Zielgruppen, Intensivierung der kommunikativen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, Einführung neuer pädagogischer Konzepte, wird für die Konzepte des "distant" oder "online learning" plädiert. Harasim sieht drei wesentliche Vorteile von "online education" mittels textbasierter Computerkonferenzen: Der Zwang zur schriftlichen Äußerung fördere die analytischen und reflexiven Fähigkeiten; die zeitliche Entkopplung der Kommunikation ermögliche es mehr Gruppenteilnehmern, dem eigenen Arbeitsrhythmus gemäß einen Beitrag in den Kommunikationsprozeß einzuspeisen; die Möglichkeiten zur schnellen Rückmeldung und zur Diskussion seien eine weitere günstige Bedingung für eine aktivierende Lernsituation (Harasim 1990, zitiert nach [Gresham 1994, 48]). [McComb 1993] kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Sie führte als Dozentin eines Kurses über "Diskussionskompetenz in Gruppen" ein Experiment mit der Nutzung eines computerunterstützten Kommunikationssystems durch, das gewisse Ähnlichkeiten mit dem Telekooperations-Experiment im Rahmen des MISP-Projekts hat. Die Gruppen waren relativ klein und arbeiteten weitgehend selbständig. Die Arbeitsberichte, die Kursunterlagen sowie Fragen und Diskussionen wurden über das elektronische Mail-System abgewickelt. Eine abschließende Befragung der Teilnehmer erbrachte einige interessante Einsichten. Obwohl die Akzeptanz und die Zufriedenheit mit der elektronischen Kommunikation relativ hoch war, gab es offensichtlich Situationen (z.B. "major problems"), in denen die direkte Kommunikation gesucht und gewünscht wurde. D.h. nur das parallele Angebot unterschiedlicher Kommunikationsformen kann eine optimale Abdeckung der Kommunikationsbedürfnisse erzielen. Insgesamt war die elektronische Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Gruppe auf der einen Seite und der Dozentin auf der anderen Seite wichtiger als zwischen den Gruppenmitgliedern selbst. Kritische Einwände zu den Potentialen netzbasierter Ausbildungsformen stammen z.B. von [Talbott 1995, 137ff] . Sein zentrales Argument ist der Verlust der unmittelbaren Erfahrung.

Im folgenden werden vier Themen der Forschung behandelt, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Literatur hindurchziehen. Es sind dies Fragestellungen, die sich beziehen


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3.3 Eigenschaften der Kommunikation in den neuen Medien

Es gibt eine Reihe von Ansätzen, die sich mit den reduzierten Ausdrucksmöglichkeiten elektronischer Kommunikation beschäftigen. Dazu gehören der "cues-filtered-out approach", die "information richness theory" oder auch eine Beurteilung der Kommunikationsmedien nach ihrer "sozialen Präsenz" (social presence) [Caldwell und Taha 1993], [Baym 1995], [Walther 1996] . Gemeint ist damit, daß die elektronische, computervermittelte Kommunikation alle nicht verschriftlichten Kommunikationsformen "ausfiltere", Körpersprache, Mimik, Gestik und emotionalen Ausdruck unterdrücke. Die einzige Kommunikationsfläche ist der Computerbildschirm und die darauf erzeugte Schrift. Dadurch entstehe eine unpersönliche, standardisierte Form der Kommunikation [Bülow u.a. 1994] . In den Untersuchungen der 70er und frühen 80er Jahre wurde daraus der Schluß gezogen, daß aufgrund dieses unpersönlichen Charakters elektronische Kommunikationssysteme in erster Linie für die aufgabenbezogene Kommunikation in Organisationen geeignet seien, weniger für persönliche oder emotionale Themen. Diese These wird heute nicht mehr aufrechterhalten und auch für die früheren Untersuchungen als ein Forschungsartefakt der damals vorherrschenden experimentellen Methode (durch eine zu kurze Untersuchungszeit) kritisiert [Walther 1996, 9]. Die Eigenschaften des Mediums allein bieten also keine hinreichende Erklärung für die Form der Nutzung. Die Nutzungszeit ist ein weiterer die Art der Nutzung beeinflussender Faktor. Intensive, persönliche Kommunikationsbeziehungen benötigen für ihre Entwicklung ausreichend lange Zeit. Dies trifft allerdings auf alle Kommunikationsmedien in ähnlicher Weise zu.


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3.4 Soziale und gesellschaftliche Folgen

Die Charakterisierung der Eigenschaften des Kommunikationsmediums und die erwarteten sozialen und gesellschaftlichen Folgen hängen in der Regel eng zusammen. Eine Facette dieser Diskussion behandelt die Anonymität (es wurde am Beispiel Theodor Geigers gezeigt, ein altes Thema), die Unpersönlichkeit und die Isolation in der technisch vermittelten und elektronischen Kommunikation [Bülow u.a. 1994] . Das Bild des vereinsamten Zeitgenossen, allein mit der Außenwelt über den Computerbildschirm verbunden, steht dabei im Hintergrund. In der Untersuchung konkreter "Netzgemeinschaften" wurde diese These zurückgewiesen. So folgern [Wetzstein u.a. 1995, 296] aus ihrer empirischen Untersuchung der deutschen "Mailboxszene" Anfang der 90er Jahre, daß überall dort, wo im Netz längerfristige persönliche Beziehungen entstanden sind, oft auch direkte persönliche Kontakte aufgenommen wurden. Die persönliche Begegnung zwischen den "Netzwerkern" ist in nicht wenigen Fällen die notwendige Voraussetzung für eine Vertrauensgrundlage für selbstverständliche Kommunikations- und Verstehensprozesse. Aus der Forschung über Telearbeit ist bekannt, daß die ausschließliche Tele-Heim-Arbeit aufgrund der sozialen Isolation nicht akzeptiert wird [Caldwell und Taha 1993] . Es werden deshalb heute eher Mischkonzepte oder Telearbeitskonzepte in Nachbarschafts- oder Satellitenbüros verfolgt.

Ein weiterer Diskussionsstrang bezieht sich auf das "Demokratisierungspotential" elektronischer Kommunikation. Ein spezielles Untersuchungsfeld hierfür ist der Modus der Kommunikation in den Wissenschaften. Nach [Crane 1972] erfolgt die wissenschaftliche Kommunikation in sogenannten "invisible colleges", informellen, aber gut abgegrenzten Zirkeln. Deren elitärer und exklusiver Status werde in elektronischen Kommunikationssystemen in Frage gestellt, weil Statusmerkmale in solchen Medien nicht mehr die entscheidende Rolle spielen, die Kommunikation im Prinzip für jeden Interessierten offen ist [Pfaffenberger 1986]. [Gresham 1994] weist allerdings auf eine noch schwach entwickelte Forschung zu den tatsächlichen Folgen des beobachtbaren Eindringens elektronischer Kommunikationssysteme in die (informelle) wissenschaftliche Kommunikation hin. So gebe es zwar Hinweise darauf, daß sich diese Art der Kommunikation in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen etabliere und ausbreite. Die Folgen sind eine Zunahme der Kommunikationsgeschwindigkeit und der Teilnehmerzahlen und eine breitere regionale und soziale Abdeckung der Teilnehmer. Es ist aber noch wenig untersucht, wie diese neuen elektronischen zu den herkömmlichen Kommunikationsformen in Beziehung stehen, und welche Rolle sie wirklich im wissenschaftlichen Prozeß und bei der Statuszuweisung spielen. Es ist jedoch zu vermuten, daß analog zu der oben geführten Diskussion über die Möglichkeiten emotionaler, persönlicher Kommunikation bei "CMC", unter bestimmten Rahmenbedingungen auch statusdifferenzierende und statusselegierende Entwicklungen innerhalb von "CMC" beobachtbar sein werden.

Nicht überraschend ist, daß auch die Gegenthese zum "Demokratisierungspotential" vertreten wird. Die neuen Kommunikationstechniken stellen neue schichtspezifische Kommunikationsbarrieren da. Der Besitz der Geräte und die Fähigkeit, damit umzugehen, sei an eine privilegierte soziale Stellung gebunden [Bülow u.a. 1994, 506, 518]. Die These knüpft an der übergreifenden Diskussion über eine Spaltung der Gesellschaft in "Informationsgewinner" und "Informationsverlierer" ("information rich and information poor") an.

Schließlich sei noch auf einen weiteren Diskussionsstrang hingewiesen, der über die heute dominierenden computerunterstützten, schriftdominierten Kommunikationssysteme hinausweist auf multimediale Systeme, deren Code in erster Linie ein bildlicher und kein sprachlicher mehr ist [Nake 1994, 542] . Diese "Dominanz der Bilder" wird philosophisch und geistesgeschichtlich heftig kritisiert [Kamper 1995] und auch aus psychologischer Sicht in Frage gestellt. So etwa, wenn [Frey u.a. 1996] die Frage aufwerfen, ob das Gleichgewicht unserer Informationsverarbeitung durch das Vordringen visueller Informationen, die eher unbewußt aufgenommen werden, nicht grundlegend in Frage gestellt wird. "Während die moderne Technologie der multimedialen und interaktiven Kommunikation den sprachlichen Informationsaustausch zugunsten des bildlichen weiter zurückdrängt, wird es zusehends dringlicher herauszufinden, woher das anscheinend unersättliche Interesse am Visuellen herrührt, weshalb es so fasziniert, welche individuellen Bedürfnisse es befriedigt und welche sozialen Funktionen es erfüllt".


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3.5 Aufgabenangemessenheit und Effizienz

[Walther 1996, S: 3f] leitet seinen Überblicksartikel zu "computer-mediated Communication" mit der Frage ein, ob denn nun "CMC" eher eine Hilfe oder eine Hindernis sei. Ein Forschungstrend sehe in "CMC" eine Kommunikationsform "too 'lean' for many task-related communications"; eine andere Richtung unterstelle, daß "CMC" ungeeignet bzw. ineffektiv für den persönlichen Informationsaustausch sei. "... not good for tasks and not good for socializing, then just what is CMC good for and why would anyone use it at all?" [Caldwell und Taha 1993] weisen auf Untersuchungen hin, nach denen kaum 20 % der Systemimplementationen computerunterstützter Kommunikationssysteme als erfolgreich gelten könnten. Die Hauptgründe für den Mißerfolg oder für die schlechte Effizienz lägen in einer unzureichenden Planung, in mangelhafter Installation des Systems, in einer mangelnden Integration in Aufgaben- und Organisationskontexte und in kulturellen Widerständen. Die Technik entscheidet also nicht allein über Erfolg oder Mißerfolg einer Anwendung. Es ist deshalb sinnvoll, die Frage danach, wie effizient "CMC" sei, in die Frage nach den Aufgaben, für die "CMC" ein effizientes Kommunikationsmittel ist, umzuformulieren.

[Walther 1996] diskutiert die Frage, in welchen Phasen aufgabenorientierter Kommunikation sich "CMC" als vergleichsweise erfolgreich herausstellte. Generell, aber besonders unter Zeitdruck ist die Entscheidungsphase wenig geeignet für den Einsatz computerunterstützter Kommunikationssysteme. Dagegen können in der Phase der Ideenfindung, insbesondere wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht, bessere Ergebnisse mit solchen Systemen erzielt werden als in der direkten Gruppenkommunikation. Eine andere Unterscheidung hebt auf die Eindeutigkeit bzw. Offenheit einer Aufgabenstellung ab. "Rich media are better suited to highly equivocal ... tasks, whereas lean media (hier gemeint "CMC", d. Verf.) are more efficient for unequivocal tasks" [Walther 1996, 8] . Es wurde oben schon auf das Ergebnis des Experiments von [McComb 1993] hingewiesen, das beinhaltete, daß bestimmte Fragestellungen ("major problems") für die elektronische Kommunikation eher ungeeignet erschienen und dafür eher der direkte Kontakt gesucht wurde.


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3.6 Aneignungsprozesse

Unter der Perspektive der Analyse von Aneignungsprozessen wird die klassische Medienwirkungsfrage, was die Medien mit den Nutzern machen, umgedreht in die Frage, was die Nutzer aus den Medien machen. Wenn in der Medien- und Kommunikationswissenschaft vom "aktiven oder produktiven Rezipienten" [Wetzstein u.a. 1995, 300] gesprochen wird, ist diese veränderte Sichtweise gemeint. Aber auch in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung gibt es Anknüpfungspunkte an die These von den sozialen Aneignungsprozessen neuer Techniken [Rammert 1990] . Ein Beispiel für solche "Aneignungsprozesse" sind die Computersysteme, mit denen begonnen wurde zu kommunizieren, die dafür eigentlich gar nicht gedacht waren [Baym 1995, 146;] [Walther 1996, 5] . In diesem Zusammenhang werden hier zwei Themen herausgegriffen: der Sprachwandel und die Herausbildung neuer Kommunikationsgemeinschaften.

Die offensichtliche Reduktion der Ausdrucksmittel im elektronischen Medium auf Schrift wird kompensiert durch neuartige, originäre schriftsprachliche Mittel wie standardisierte Abkürzungen (gerade ist ein Lexikon der Internet-Sprache unter dem Titel "Chat-Slang" erschienen, [Rosenbaum 1996]) und sogenannte "Emoticons", die non-verbale Zeichen für Gefühlsregungen in die Schriftsprache einführen [Spitzer 1986], [Kuehn 1993], [Wetzstein u.a. 1995, 296] . In vielen Beiträgen wird auch der Frage nachgegangen, wie die in den computerunterstützten Kommunikationssystemen verwendete Sprache zu charakterisieren sei - eher verschriftlichtes Sprechen oder eher klassische Schriftsprache. Die meisten Autoren kommen zum Schluß, daß die neue "Netzsprache" weder das eine noch das andere sei, sondern eine ganz eigene Qualität besitze [Greller und Barnes 1993], [Kuehn 1993], [Metz 1994]. [Gresham 1994, 47] verweist auf eine Studie, in der die Mitteilungen aus Computerkonferenzsystemen auf ihre "lexical density" untersucht wurden. Mit dem Konzept der "lexical density" konnte erfolgreich gesprochene und geschriebene Sprache unterschieden werden. In diesem Fall zeigte sich, daß die in den Computerkonferenzsystemem verwendete Sprache weder eindeutig der gesprochenen noch der geschriebenen Sprache zugeordnet werden kann.

In bezug auf die sozialen Aneignungsprozesse der neuen Kommunikationsmedien schlägt Höflich den Begriff der "elektronischen Gemeinschaft" vor 1995, [Höflich 1996]. Er definiert sie durch gemeinsame Gebrauchsweisen und Verhaltensregeln. Solche Verhaltensregeln sind z.B. die "Netikette" des Usenet [Hoffmann 1995] . Da der Gebrauch von Kommunikationstechnologien nicht a priori festgelegt ist, wird eine konkrete Aneignungsform zum Konstitutionsmerkmal einer "kommunikativen Gemeinschaft". Die Frage nach den Folgen ist in dieser Perspektive der Medienaneignung eine sekundäre. "Erst wenn geklärt ist, was die Menschen mit den Medien machen, läßt sich die Frage nach deren Folgen befriedigend beantworten" [Höflich 1995, 534] . Ähnlich argumentiert Metz. Er schlägt eine Untersuchung der neuen Kommunikationstechnologien unter einer "human action perspective" vor [1994, 47]. "CMC ... is not merely a channel through which people communicate. CMC is ... perhaps the only medium that its users change the very nature of communication" [47f]. Auch [Bülow u.a. 1994] weist, indem sie den Begriff der Sprachgemeinschaft durch den der Kommunikationsgemeinschaft ersetzt, auf die Regeln der Kommunikation und Interaktion hin, die eine solche Gemeinschaft abgrenzen. Indem sie allerdings vorschlägt, bestimmte "Maximen" der Kommunikation (Maximen der Emotionalität und Maximen der Sozialität) für die spezifischen Bedingungen technisch vermittelter Kommunikation ergänzend in den Katalog der allgemeinen Kommunikationsmaximen (in Orientierung an Grice, z.B. Maximen der Quantität und Qualität, Maximen der Modalität etc.) aufzunehmen, ist ihre Intention eher eine normative und medienpädagogische.


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4. Das Experiment

4.1 Teilnehmer, zeitlicher Ablauf und Datenmaterial

Am Experiment nahmen sieben Personen teil. Dies waren einerseits die fünf studentischen Projektteilnehmer an der Universität Kaiserslautern, andererseits die beiden externen Kooperationspartner in Kaiserslautern und Karlsruhe. In der Studentengruppe waren als Studienrichtungen zweimal die Informatik sowie Raumplanung, Architektur und Biophysik vertreten. Alle Teilnehmer waren erfahren in der Nutzung von Computern und Internet-Diensten wie Mail und WWW. Allerdings gab es nur geringe Erfahrung mit der aufgabenbezogenen, kooperativen Nutzung elektronischer Kommunikationssysteme.

Die genutzten Computerplattformen waren unterschiedlich: Unix-Workstations, Windows-PCs und Macintosh-Computer. Entsprechend variierte die genutzte Mail-Software. Der Zugang zum Internet erfolgte teilweise direkt von der Universität bzw. vom Forschungszentrum Karlsruhe aus, teilweise aber auch von zu Hause über Internet-Zugänge durch T-Online oder AOL bzw. durch sogenanntes "remote login" von zu Hause ins Rechenzentrum der Universität. Alle Teilnehmer waren männlich. Die externen Kooperationspartner waren sich vorher nicht bekannt und kannten auch keinen der beteiligten Studenten, während sich diese untereinander schon kannten, nicht zuletzt durch die MISP-Einführungswoche vom 19.3. bis 23.3.1996.

Der zeitliche Ablauf stellt sich wie folgt dar (vgl. die Tabelle 2): Das erste, persönliche Zusammentreffen der gesamten Gruppe fand am 19.4.1996 in Kaiserslautern statt. Auf diesem ersten Treffen wurde die geplante Projektarbeit inhaltlich besprochen, erste Aufgaben verteilt und Termine vereinbart und die Nutzung einer Mail-Liste für die Kooperation innerhalb der Gruppe, insbesondere auch zwischen Projektgruppe und externen Kooperationspartnern beschlossen. Die Erfahrungen mit dieser Art der "Telekooperation" sollten ausgewertet werden. Es wurde ein wöchentlicher Termin ausgemacht (Freitag 12 Uhr), bis zu dem von jedem ein "Wochenbericht" an die Mail-Liste geschickt werden sollte. Ansonsten war die Nutzung der Mail-Liste ins Belieben gestellt. Der Vorschlag, auch Formen der bildgestützten Telekommunikation (Videokommunikation, Desktop Video Konferenzen) mit einzubeziehen, wurde zwar wohlwollend aufgenommen, konnte aber im Rahmen der Projektzeit dann doch nicht realisiert werden. Das erste Mail an alle Teilnehmer wurde am 23.4.1996 verschickt. Anfänglich mußte die Verteilung an alle Teilnehmer noch individuell vorgenommen werden, ab dem 3.5.1996 existierte dann eine Mail-Verteil-Adresse, an die die Beiträge adressiert wurden und die dann automatisch die Verteilung an alle Gruppenmitglieder vornahm.

Die Zwischenpräsentation der Projektergebnisse fand am 24.5.1996 statt. Die beiden Kooperationspartner nahmen daran nicht teil. Das letzte und 67. Mail an die Gruppe wurde am 8.7.1996 verschickt. Am 19.7.1996 wurde die Abschlußpräsentation der Projektergebnisse in Kaiserslautern durchgeführt. An dieser Veranstaltung nahmen auch die externen Kooperationspartner teil. Dies war das zweite, direkte Zusammentreffen zwischen Kooperationspartnern und Projektgruppe. Es wurde dort vereinbart, noch synchrone Telekommunikationssysteme (wie Talk und Chat) in das Nutzungsexperiment mit einzubeziehen. Eine erste Talk- und Chat-Sitzung zwischen Karlsruhe und Kaiserslautern fand am 29.7.1996 statt. Sie diente dazu, technische Hürden auszuräumen und erste Erfahrungen mit diesen beiden synchronen Telekommunikationsprogrammen zu machen. Am 24.9.1996 fand dann die geplante "Online-Diskussion" zu den im MISP-Telearbeitsprojekt gesammelten Erfahrungen per Chat-Programm (IRC) statt. Leider konnten neben dem Autor nur zwei der studentischen Projektteilnehmer in Kaiserslautern daran teilnehmen. Diese Sitzung wurde am 26.9.1996 fortgesetzt und abgeschlossen. Beide Sitzungen zusammen dauerten 3 1/2 Stunden. Die folgende Tabelle gibt nochmals einen Überblick über die wichtigsten Daten des MISP-Projekts Telearbeit.

19.3.-23.3.1996 MISP-Einführungswoche
19.4.1996 erstes Treffen der Telearbeitsgruppe mit den externen Kooperationspartnern in Kaiserslautern
23.4.1996 1. Mail an die MISP-Telearbeitsgruppe
3.5.1996 automatischer Mail-Verteiler eingerichtet
24.5.1996 Zwischenpräsentation
8.7.1996 letztes und 67. Mail im Gruppenkontext
19.7.1996 Abschlußpräsentation
29.7.1996 Testsitzungen mit Talk und IRC zwischen Kaiserslautern und Karlsruhe
24. und 26.9.1996 Online-Diskussion (IRC) zwischen Kaiserslautern und Karlsruhe zu den Telekooperationserfahrungen
Tabelle 2: Zeitlicher Ablauf des MISP-Projekts "Telearbeit"

An Daten standen für die Auswertung in erster Linie die 67 Mail-Beiträge zur Verfügung, die inhaltlich und nach formalen Kriterien ausgewertet wurden. Zusätzlich flossen als Material in die Auswertung mit ein: acht reflektierende Abschnitte zu den Mail-Erfahrungen aus den Mail-Beiträgen, die allerdings nur von zwei der insgesamt sieben Teilnehmer stammen; eine zusammenfassende Bewertung der Mail-Kommunikation, die von einem studentischen Projektteilnehmer nach Abschluß der Mail-Phase aufgeschrieben wurde; schließlich die "Logfiles" der beiden Online-Diskussionen (IRC-Sitzungen) vom September, die zusätzlich wichtige Hintergrundinformationen und Bewertungen lieferten.


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4.2 Ergebnisse: Beteiligung, zeitlicher Ablauf, Inhalte

Die aktive Teilnahme an der Mail-Kommunikation ist zwischen den Personen ungleich verteilt. Im Durchschnitt hätte jeder Teilnehmer mindestens neun Mails zum Gesamtaufkommen der 67 Mails beitragen müssen. Tatsächlich schwanken die Beiträge zwischen drei und 13 Mails. Es schälen sich zwei Gruppen heraus, die sehr homogen sind. Einerseits eine Gruppe von zwei Teilnehmern, die mit insgesamt drei bzw. vier Mails nur sporadisch an der Mail-Kommunikation aktiv teilgenommen haben. Andererseits eine Gruppe von fünf Teilnehmern, die je 11 bis 13 Mails in den Mail-Prozeß eingespeist haben.

Auffallender als diese ungleiche Verteilung in bezug auf die Personen ist die zeitliche Verteilung des Mail-Aufkommens im gesamten Zeitraum von 13 Wochen (17. bis 29. Kalenderwoche). In den ersten drei Wochen gab es eine besonders mail-aktive Zeit mit insgesamt 31 Mails (das sind 46 % aller Mails in 13 Wochen). Ein "Zwischenhoch" stellte sich in der 24. Woche mit 10 Mails (15 %) ein. Bei einer gleichmäßigen Verteilung über den ganzen Zeitraum der 13 Wochen wären 5 Mails pro Woche zu erwarten gewesen. Welche Erklärung gibt es für diesen diskontinuierlichen Verlauf der Mail-Kommunikation? In der folgenden Tabelle wurden die 13 Wochen mit ihrem Mail-Aufkommen aufgeführt und wichtige Ereignisse im Ablauf der Projektarbeit ergänzt.

Mails Woche Bemerkungen
12 22.-28.4. 1. Treffen am 19.4., 1. Mail am 23.4.
12 29.4.-5.5.
7 6.5.-12.5.
3 13.5.-19.5. 16.5. Himmelfahrt
3 20.5.-26.5. 24.5. Zwischenpräsentation, 26.5. Pfingsten
6 27.5.-2.6. 27.5. Pfingstmontag
3 3.6.-9.6. Beginn Fragebogenentwicklung
10 10.6.-16.6. 11.6. "major problem" signalisiert
4 17.6.-23.6. 17.5. "große Runde" (ohne Kooperationspartner)
3 24.6.-30.6.
3 1.7.-7.7.
1 8.7.-14.7. 8.7. letztes (67.) Mail
0 15.7.-21.7. 19.7. Schlußpräsentation
Tabelle 3: Zeitliche Verteilung der Mail-Beiträge

Es zeigt sich folgender Zusammenhang: Die Wochen erhöhter Gruppenaktivität vor der Zwischenpräsentation und der Schlußpräsentation gehen einher mit einem niedrigen Aktivitätsniveau im Bereich der Mail-Kommunikation. Die Feiertage im Mai und mögliche damit zusammenhängende Urlaube und Heimfahrten mögen ein übriges zu dem Abfall des Mail-Niveaus ab Mitte Mai beigetragen haben. Das "Zwischenhoch" nach der Zwischenpräsentation wird gespeist einerseits aus einer "Zwischenzeit" der Neuorientierung hin zum Endspurt, andererseits aus den Aktivitäten um die Fragebogenentwicklung und Durchführung der Fragebogenaktion (vgl. hierzu [Besser u.a. 1997] in diesem Band). In dieser 8. Woche des Experiments wird auch ein größerer Diskussionsbedarf zur Fortführung der weiteren Arbeit angemeldet (Stichwort "major problem") und zu einem gemeinsamen Treffen mit den externen Kooperationspartnern eingeladen. Die Inhalte dieses "major probles" werden allerdings in der Mail-Liste nicht weiter ausgeführt, geschweige denn diskutiert. Diesbezügliche Anregungen von seiten des Karlsruher Kooperationspartners werden nicht aufgegriffen. Dieses Treffen ("große Runde") findet dann in der folgenden Woche statt, allerdings wegen terminlicher Probleme ohne die externen Kooperationspartner, aber mit einem Mitarbeiter des MISP-Teams der Universität Kaiserslautern. In der Mail-Liste wird über dieses Treffen wiederum ein Woche später berichtet. Danach flauen die Mail-Aktivitäten bis zur Schlußpräsentation, dem Endpunkt des hier untersuchten Zeitraums, deutlich ab. Es gab offensichtlich wichtigeres zu tun als die Gruppenkommunikation per E-Mail aufrechtzuerhalten.

Dies führt zur Frage nach dem generellen Stellenwert der Mail-Kommunikation im gesamten Kommunikations- und Arbeitsprozeß der Gruppe und nach den Inhalten der E-Mail-Kommunikation. Dazu ist es notwendig, sich die Kommunikationssituation der Gruppe nochmals vor Augen zu führen. Die fünf studentischen Mitglieder der Projektgruppe trafen sich in der Regel mindestens einmal wöchentlich zu einer Gruppensitzung. Darüber hinaus gab es zwischen einzelnen Mitgliedern der Gruppe auch weitere direkte Kontakte im Laufe der Woche. So war E-Mail für die Gruppe ein ergänzendes Kommunikationsmedium, das zwar bewußt genutzt werden sollte, um damit Erfahrungen zu sammeln, aber doch in Konkurrenz zu anderen Kommunikationsformen stand. Für die beiden externen Kooperationspartner war die Situation grundsätzlich anders. Für sie war E-Mail das hauptsächliche Kommunikationsmedium, um sich in den Gruppenprozeß einzubringen, nicht nur, weil man dies als Experiment so vereinbart hatte, sondern auch deshalb, weil keine direkten Treffen vorgesehen und terminlich auch schwer zu realisieren gewesen wären. Andere Kommunikationsformen wie Telefon kamen nur vereinzelt vor. Bei der Beurteilung der Kommunikationssituation ist auch zu beachten, daß die studentische Projektgruppe sehr selbständig arbeiten sollte, und die Rolle der externen Kooperationspartner eher eine im Hintergrund beobachtende und anregende sein sollte.

Um die Inhalte der Mail-Kommunikation beurteilen zu können, wurden die 67 Mails inhaltsanalytisch nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewertet. Dabei interessierten inhaltliche, kommunikative und formale Aspekte. Mit inhaltlich ist gemeint, welche Themen angesprochen wurden, z.B. "Begriff der Telearbeit", "Fragebogen". Mit kommunikativ ist gemeint, ob Fragen gestellt, Antworten gegeben oder auf andere Beiträge reagiert wurde. Formale Aspekte sind bestimmte Sprachformen (Smileys), die sogenannten Wochenberichte oder Gruppenprotokolle. Einem Mail-Beitrag konnten mehrere dieser Kategorien zugeordnet werden, so daß die 67 Mails insgesamt mit 200 Kategorien vercodet wurden. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse in der Übersicht.

Wochenbericht 15 22 %
Protokoll eines Gruppentreffens 8 12 %
Smileys, Emoticons 8 12 %
Mail-Technik betreffend 16 24 %
Mail-Nutzung reflektierend 8 12 %
Mitteilungen zu Gruppenterminen 9 13 %
Koordination von Gruppenterminen 15 22 %
Informationen für die Gruppenarbeit 33 49 %
Das Vorgehen der Gruppe betreffend 26 39 %
Das Gruppenthema "Telearbeit" betreffend 17 25 %
Entwicklung des Fragebogens und Fragebogenaktion 11 16 %
Weitergehende Informationen, über den direkten Gruppen- und Arbeitsrahmen hinaus 6 9 %
Fragen an die Gruppe 12 18 %
Antworten auf diese Fragen 3 4 %
Inhaltliche Reaktionen und Bezugnahmen auf vorangegangene Nachrichten 13 19 %
Tabelle 4: Inhaltliche Auswertung der Mail-Beiträge (Prozentwerte bezogen auf alle 67 Mails)

In der Auswertung konzentrieren wir uns auf die inhaltlichen und kommunikativen Aspekte. In fast der Hälfte aller 67 Mails (49 %) sind informierende Mitteilungen enthalten, wie z.B. daß man ein das Thema betreffendes Buch erhalten hat, eine Tagung zur Telearbeit stattfindet, ein Kontakt aufgenommen wurde etc. Einen ähnlichen Charakter haben die Mitteilungen über Gruppentermine (13 %) ("Wir treffen uns um ...") und weitergehende Informationen, die nur vermittelt mit dem Thema der Arbeit zu tun haben (9 %).

An zweiter Stelle stehen Inhalte, die sich auf das Vorgehen in der Gruppe beziehen (39 % aller Mails). Es sind in der Regel Äußerungen, in denen ein Vorgehen vorgeschlagen wird. Ein Beispiel wäre: "Wir sollten darauf achten, daß jeder seine gelesene Literatur hier mitteilt". Einen ähnlichen Status haben die Beiträge, die sich um die Koordination eines Gruppentermins bemühen (22 %). "Ich schlage vor, daß wir uns da und da treffen!". Im Unterschied zur Mitteilung von schon festgelegten Terminen 13 %) ("Wir treffen uns wie üblich montags in XY") und im Unterschied zu den Vorschlägen die Gruppenarbeit betreffend, stellte sich schnell heraus, daß die Koordination von Gruppenterminen per E-Mail kein einfaches Unterfangen ist. Die Ungleichzeitigkeit und Offenheit des E-Mail-Prozesses erschwert solche engen Koordinationsprozesse. Obwohl bestimmte, relativ komplizierte Verfahren diskutiert wurden, um auch per E-Mail-Liste Termine zu vereinbaren, wird dann davon doch kein Gebrauch gemacht.

Den dritten Platz nehmen mit 25 % aller Mails inhaltliche Ausführungen zum Thema "Telearbeit" ein. Es handelt sich dabei z.B. um Beiträge, in denen Literatur referiert wurde, oder um Vorschläge zur Begriffsabgrenzung oder Gliederung der Arbeit. Zu den inhaltlichen Themen gehören auch die Beiträge zur Entwicklung des Fragebogens (16 %).

Von [Reid 1988] gibt es die Aussage, daß in Mail-Systemen in erster Linie die Probleme des Mailens behandelt werden. Daß dies heute immer noch ein Thema ist, zeigen die 16 Mails (24 %), die solche Fragen beinhalteten. Z.B. gehört dazu das immer noch nicht gelöste Problem, wie man Umlaute in heterogenen Mail-Umgebungen schreiben soll. Eine Dominanz des Themas läßt sich allerdings nicht mehr feststellen. Eine gewisse Veralltäglichung im Umgang mit diesem Medium ist wohl eingetreten, von einem problemlosen, selbstverständlichen Umgang, wie beim Telefon, kann man aber auch heute noch nicht sprechen.

Relativ untergeordnet im Vergleich zu den informierenden, vorschlagenden und inhaltlichen Beiträgen, sind die kommunikativen Aspekte dieser Beiträge. Zwar werden in fast jedem fünften Mail (18 %) Fragen gestellt, aber nur 3 Mails (4 %) enthalten auch Antworten darauf. Die meisten Fragen bleiben also unbeantwortet oder gar unbeachtet. Ein Diskussionsfaden wird in 13 Mails aufgenommen (19 % aller Mails). Allerdings stammen allein acht dieser Mails von nur einer Person. Die diskursive Funktion des Mediums stellt sich also nur sehr ungenügend heraus.


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4.3 Diskussion

Bei dem hier beschriebenen Experiment zur Nutzung computerunterstützter Kommunikationssysteme handelt es sich um den Einsatz von "electronic mail", also einer schriftbasierten, asynchronen Form der technisch vermittelten Kommunikation, in einer aufgabenbezogenen, zeitlich und personal klar abgegrenzten Situation. Es gelang, einen relevanten Anteil der Gruppenkommunikation über E-Mail abzuwickeln und räumlich entfernte Teilnehmer in diesen Kommunikationsprozeß zu integrieren, obwohl eine persönliche Bekanntschaft vorher praktisch nicht gegeben war. Gleichzeitig zeigte sich auch, was für solche Medienstudien immer wieder typisch ist, daß das Nutzungsverhalten stark zwischen den Personen und Situationen variiert. Man muß davon ausgehen, daß nicht jede Person in gleichem Maße bereit ist, in eine ausschließlich schriftlich geführte Kommunikationssituation einzusteigen. Gründe mögen in der Unzugänglichkeit von Computern, in Hürden ihrer Bedienung, im Tippaufwand für ungeübte Tastaturschreiber oder schlicht in der Tatsache liegen, daß es eher mündlichsprachliche und eher schriftsprachliche Kommunikationstypen gibt. Problemlos konnten im Medium "electronic mail" informative, mitteilende Beiträge formaler und inhaltlicher Art ausgetauscht werden. Dafür wurde das System auch in erster Linie genutzt. Deutlich weniger wurden koordinierende und diskursive Beiträge eingespeist.

In diesem Zusammenhang sind zwei Beobachtungen von Bedeutung. Im Versuch, eine inhaltliche Diskussion zu führen, oder auch nur eine Frage zu stellen, stellte sich teilweise das (frustrierende) Gefühl ein, gegen eine Wand zu sprechen, respektive zu schreiben. Die Reaktion der Partner ist so lange intransparent, wie sie sich nicht explizit äußern. Der aktive Kommunikationsteilnehmer weiß gegebenenfalls nicht, ob seine Intervention überlesen oder bewußt ignoriert wurde, ob niemand etwas dazu einfällt oder die Nachricht vielleicht technisch gar nicht angekommen ist. Die Kommunikationssituation weist somit eine grundlegende Asymmetrie auf, ist viel weniger mit dem Telefonieren vergleichbar als mit einer Ansprache an ein anonymes Publikum, bei dem man nie sicher sein kann, wer die Aufmerksamkeit gerade auf die eigene Rede gerichtet hat. Teilweise ist diese Situation vergleichbar mit jener des Briefschreibens, nämlich dann, wenn ein Brief nicht beantwortet wird, obwohl dies erwartet wird. Dies verweist auf einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt, den der Kommunikationsregeln. Wir haben kulturell über Jahrhunderte gelernt, wie mit Briefen umzugehen ist. Ähnliche Verhaltenskodices müssen sich auch für die elektronische Kommunikation herausbilden: z.B. daß man in einer geschlossenen Kommunikationsgruppe Fragen und andere Interventionen mit Aufforderungscharakter nicht einfach ignorieren sollte. In diesem Zusammenhang wurde in der Gruppe diskutiert, daß die elektronische Kommunikation im Vergleich zur direkten, persönlichen einen geringeren Grad an Verbindlichkeit habe, obwohl sie schriftlich geführt wird.

in weiteres Problem der elektronischen Kommunikation, soweit die Partner sich nicht oder nur sehr flüchtig kennen, stellt die merkliche Profillosigkeit des Gegenüber dar. Auch nach einigen Wochen konnte zum jeweiligen Mail-Beitrag keine konkrete Person zugeordnet werden. Dies ist einerseits eine erschwerende Bedingung der Kommunikation und führt andererseits, wie in der Literatur mehrfach berichtet, zum Wunsch, den Gegenüber persönlich besser kennenzulernen, sich seiner Person, seiner Identität zu vergewissern. Die Abkehr von Konzept einer umfassenden Teleheimarbeit zugunsten von Mischkonzepten hat auch hierin ihren Grund. Dauerhafte Kooperationsbeziehungen nur auf den "schmalen" Kommunikationskanälen verschriftlichter, elektronischer Kommunikation aufbauen zu wollen, ist kaum vorstellbar.

Deutlich wurde auch, daß man es immer mit einem Geflecht von Kommunikationsbeziehungen und Kommunikationsmitteln zu tun hat, die sich ergänzen und überlappen. Man ist nicht in seinen kommunikativen Äußerungen zu 100 Prozent auf die elektronische Kommunikation angewiesen, sie steht in Konkurrenz zu direkter, telefonischer und brieflicher Kommunikation. Und es ist nicht ungewöhnlich, daß Kommunikationsprozesse über verschiedene Kommunikationsmedien hinwegwandern. Was mit einem Telefonanruf begann, wird im Mail-System fortgesetzt und dann bei einem persönlichen Treffen abgeschlossen. Wichtig ist dabei, daß alle Gruppenmitglieder in gleicher Weise über alle Kommunikationsmedien verfügen. Sonst entstehen "Kommunikationslöcher" und "Kommunikationsnischen", die nicht mehr für alle Mitglieder transparent sind.

Bestätigt wurde auch, was aus einem ähnlich gelagerten Untersuchungsbeispiel [McComb 1993] berichtet wurde. Es gibt eine bestimmte Sorte von "major problems", für die die direkte, persönliche Kommunikation gesucht wird. Es handelt sich dabei wohl um komplexe, unbestimmte und vieldeutige Problemlagen, die sowieso schwer zu explizieren sind. Ob die Mail-Kommunikation dafür völlig ungeeignet ist, bleibt allerdings eine offene Frage. Gibt es zum Mail-System die Alternative der direkten Kommunikation, dann wird letztere jedenfalls vorgezogen.

Ohne Regeln funktioniert keine Kommunikation. Obwohl die Vereinbarung, daß jeder mindestens einmal bis Freitag, 12 Uhr, einen "Wochenbericht" abliefern sollte, nicht konsequent eingehalten wurde, hat diese Regel vermutlich doch zu einer gewissen Orientierung auf die Mail-Kommunikation beigetragen. Man konnte so eine relativ stabile Erwartung herausbilden, daß einige Nachrichten im Laufe einer Woche vorgelegt wurden. Da sowohl Bezugnahmen auf vorhergehende Beiträge eher selten waren und auch emotionale Themen eher keine Rolle spielten, waren auch keine besonderen mail-spezifischen Stile zu beobachten. Es handelte sich überwiegend um einen, man möchte fast sagen, "klassischen" Berichts- und Mitteilungsstil.

Zugegeben, "electronic mail" ist heute nicht mehr das technisch avancierteste Kommunikationsmedium. Die Begrenzungen sind offensichtlich. Gleichzeitig muß vor unrealistischen, kurzfristigen Hoffnungen durch ein Drehen an der Technologiespirale gewarnt werden. Die nächste Generation der Kommunikationsmedien, z.B. Bildkommunikation oder drahtlose Dienste, stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung. Ernsthafte, verbindliche aufgabenbezogene oder auch persönliche Kommunikation braucht ausreichend Zeit, um sich entwickeln zu können, ausreichend Zeit, um sich die neuen Techniken aneignen zu können, ausreichend Zeit, um die Potentiale ihrer Nutzung erkennen und die Regeln ihres Gebrauchs anpassen zu können. Nach gut einem Vierteljahrhundert computerunterstützter, schriftbasierter, asynchroner Kommunikation sind wir vielleicht damit so weit, daß wir dieses Medium sinnvoll in bestimmte Kommunikationskontexte integrieren können. In diesem Sinn sollten wir es produktiv nutzen.


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6. Biobibliographie

Ulrich Riehm, Jahrgang 1952, Studium der Soziologie und Pädagogik an der Universität Mannheim mit Abschluß Diplom Soziologe 1976; nachfolgende EDV-Ausbildung und Tätigkeit in der EDV-Abteilung eines Maschinenbaubetriebs; seit 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Forschungszentrums Karlsruhe; Forschung zu den Wirkungen und Chancen von Informations- und Kommunikationstechnologien im Bereich CAD, Elektronisches Publizieren, Elektronische Bücher, Multimedia. Buchveröffentlichungen: Wingert, B.; Duus, W.; Rader, M.; Riehm, U.: CAD im Maschinenbau. Wirkungen, Chancen, Risiken. Berlin u.a.: Springer 1984; Riehm, U.; Böhle, K.; Gabel-Becker, I. ; Wingert, B.: Elektronisches Publizieren. Eine kritische Bestandsaufnahme. Berlin u.a.: Springer 1992; Riehm, U.; Wingert, B.: Multimedia - Mythen, Chancen und Herausforderungen. Mannheim: Bollmann 1995.


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Stand: 27.01.1999 - Bemerkungen und Kommentare bitte an: ulrich.riehm@kit.edu