ITAS-Kolloquium 2021

  • Veranstaltungsart:

    Vortragsreihe

  • Tagungsort:

    ITAS, Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe

  • Datum:

    2021

  • Das Kolloquium findet in Raum 418 statt.

Montag, 13. Dezember 2021, 14:00 Uhr

PD Dr. Basil Bornemann / Department Gesellschaftswissenschaften, Universität Basel

Sozial-ökologische Transformationen in Zeiten des Populismus: Herausforderungen und Chancen

Sozial-ökologische Transformation und Populismus sind zwei Zentralbegriffe der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre. Sie verweisen beide auf gegenwärtige Krisen: die Klimakrise bzw. multiple Krise des Anthropozäns einerseits und eine Demokratiekrise oder gar „große Regression“ im Sinne eines Zurückfallens spätkapitalistischer Gesellschaften hinter ihr einstmals erreichtes Niveau der Zivilisiertheit andererseits. In der Praxis lassen sich vielfache Verstrickungsbeziehungen zwischen sozial-ökologischer Transformation und Populismus ausmachen. Zum Beispiel gelten sozial-ökologische Transformationspolitiken (wie der „Kohleausstieg“) mitunter als Treiber populistischer Mobilisierung. Umgekehrt erweisen sich populistische Bewegungen an der Regierungsmacht als aktive Bekämpfer sozial-ökologischer Transformationsprojekte. Angesichts dieser Verstrickungen möchte ich in meinem Vortrag eine systematischere Klärung des Verhältnisses der beiden Konzepte und ihrer analytischen Verbindungen vornehmen. Dabei möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern populistische Zeiten die Analyse von SÖT vor neue Herausforderungen stellen – und welche Chancen damit einhergehen? Um die Frage zu beantworten, bringe ich ein zeitdiagnostisches Verständnis von Populismus für eine kritische Reflexion unterschiedlicher Ansätze sozial-ökologischer Transformation in Anschlag. Meine zentrale These ist, dass unterschiedliche Ansätze sozial-ökologischer Transformation unterschiedlich gut auf die Herausforderungen populistischer Zeiten vorbereitet sind. Aus einer Populismusperspektive werden spezifische „Stärken“, aber auch „blinde Flecken“ von Ansätzen sozial-ökologischer Transformationsanalyse sichtbar. Gerade Letztere bergen die Gefahr einer Reproduktion oder Verstärkung der Triebkräfte des Populismus durch sozial-ökologische Transformationen in der Praxis.

Montag, 11. Oktober 2021, 14 Uhr

Dr. Davor Löffler / Globalisierungsgeschichte, Futurologie, Wissensgeschichte, Menschenbegriff im 21. Jahrhundert, Universität Basel & Leuphana Universität Lüneburg

Generativität, Informationalismus, Technologische Zivilisation. Beiträge neuerer Technikanthropologie und Zivilisationstheorie zur soziotechnischen Prognostik und Transformationsforschung

Digitalisierung, Algorithmisierung und künstliche Intelligenz als Auslagerung von (spezifischen) Funktionen des Geistes in die Materie, die Fähigkeit zur Manipulation und Schöpfung von Leben mittels der Biotechnologie und der anthropogene Klimawandel markieren zweifellos eine Zäsur der Menschheitsgeschichte, die auch zu einem grundlegenden Wandel des menschlichen Weltverhältnisses und Selbstbegriffs führen wird. Wenn die Gegenwart als Übergang von der Moderne in eine neue Zivilisationsform gefasst werden muss, dann stellt sich die Frage, wie die damit entstehenden zukünftigen Weltverhältnisse und Kognitionsformen, Politik- und Wirtschaftsstrukturen, Materialitäten, Zeitvorstellungen, Mathematiken, Kosmologien und Metaphysiken beschaffen sein werden. Von den Kultur- und Geisteswissenschaften wurde diese Zäsur bislang jedoch kaum erfasst, geschweige denn vollumfänglich thematisiert. Zwar liegen mittlerweile einige vortastende Analysen und Beschreibungen des Wandels vor, so etwa zur digitalen Transformation von Märkten oder politischen Institutionen, doch beziehen sich diese Studien vorrangig auf bereichsspezifische Veränderungen innerhalb des engen Zeitrahmens einiger weniger Jahre und vermögen methodologisch und programmatisch weder der Totalität das Wandels gerecht zu werden noch weitergehende Entwicklungen zu extrapolieren. Auf der anderen Seite stehen technikhistorisch sehr breit angelegte Ansätze wie etwa Luciano Floridis Konzept der „vierten Revolution“ oder transhumanistische Spekulationen wie Ray Kurzweils „Singularität“, die sich wiederum als zu schematisch und grobkörnig erweisen, um für eine präzise Bestimmung dieses Übergangs und mögliche transformationswissenschaftliche Ableitungen informativ zu sein.

Um die makrohistorische Frage nach der Möglichkeit einer aus der Moderne hervorgehenden neuen Zivilisationsform beantworten und mögliche daraus folgende Konsequenzen für den Menschen und die Gesellschaft extrapolieren zu können, bedarf es daher zum einen einer nicht-spekulativen, wissenschaftlich fundierten Verortung der Gegenwart in den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte, die jedoch zum anderen auch die Koevolution von Technologie, Geist und Gesellschaft zu berücksichtigen hat und allgemeine Tendenzen, Prinzipien und Muster der koevolutionären Entwicklung miteinbezieht. Eine solche kulturevolutionär-zivilisationsgeschichtlich orientierte Zeitdiagnose verspricht, für Prognosen bereichsübergreifender zukünftiger Entwicklungstrajektorien fruchtbar zu sein. Dies soll im Vortrag anhand der Vorstellung einiger Konzepte und Befunde der aktuellen Technikanthropologie und Zivilisationstheorie aufgezeigt werden.

Zentral hierfür ist die Synthese des technikevolutionär-kognitionsarchäologischen „Modells der Erweiterung kultureller Kapazitäten“ nach Miriam Haidle mit Arno Bammés historisch-soziologischer Theorie „axialer Zäsuren“, anhand der sich zeigen lässt, dass die gegenwärtigen technisch-medialen Innovationen als Fortführung der kulturellen Nischenkonstruktion verstanden werden müssen, die vor ca. drei Millionen mit der Herstellung erster Steinwerkzeuge ihren Anfang nahm. Die darin zur Anwendung gebrachten, in der Kulturevolutionsforschung der letzten beiden Jahrzehnte herausgearbeiteten Entwicklungsprinzipien des Ratchet-Effekts, der Operationskettenerweiterung, der Rekursion und Koevolution machen die Menschheitsgeschichte als regelhafter Naturprozess beschreibbar. Diese Konzeptualisierung der Geschichte erlaubt es, diskrete Entwicklungsgrade im multilinearen Verlauf der Hominisation und Zivilisationsgeschichte zu identifizieren sowie Entwicklungsmuster abzuleiten, die es ermöglichen, die Stellung und Bedeutung der Gegenwart exakt im Verlauf der Menschheitsgeschichte zu verorten und sie als eine kumulationslogisch folgerichtig auftretende neue Stufe technisch-kultureller Raum- und Zeitdomestikation auszuzeichnen. Ein Ausdruck dieser Zäsur ist der noch unabgeschlossene Übergang vom neuzeitlichen mechanistisch-dualistischen Weltbild zum informationalistisch-prozessualen Weltbild, der im Vortrag näher beleuchtet werden soll. Es wird zur Diskussion gestellt, auf welchen Ebenen der Begriff der Geschichte als Naturprozess und die Freistellung der darin wirkenden Generativitätsprinzipien die Transformationsforschung und Technikfolgenabschätzung bereichern kann.

Montag, 19. Juli 2021, 14:00 Uhr

Prof. Dr. Michael Mäs / Sociology and Computational Social Science, Karlsruhe Institute of Technology

Are Filter Bubbles responsible for opinion polarization?

There is public and scholarly debate about the effects of personalized recommender systems implemented in online social networks, online markets, and search engines. On the one hand, it has been warned that personalization algorithms reduce the diversity of information diets which confirms users’ previously held attitudes and beliefs. Opinionated social media posts, shared news items, and online discussion could fragment social groups, alienate users with different political views, and ultimately foster opinion polarization. On the other hand, critics of this personalization-polarization hypothesis argue that the effects of personalization algorithms on information diets are too weak to have meaningful effects. Here, we argue that contributions to both sides of the debate fail to consider the complexity that arises when large numbers of interdependent users interact and exert influence on one another in algorithmically governed communication systems. Reviewing insights from the literature of opinion dynamics in social networks, we demonstrate that opinion dynamics can be critically influenced by mechanisms active on three levels of analysis: the individual, local, and global level. We show that theoretical and empirical research on these three levels is needed to answer the question whether personalization fosters polarization or not, advocating an approach that combines rigorous theoretical modeling with the emergent field of data science.

Montag, 21. Juni 2021, 14:00 Uhr

Prof. Dr. Marianne Boenink / Radboud university medical center, Nijmegen

Valuing innovation: epistemological and methodological challenges for RRI

Responsible Research & Innovation, regardless of how it is defined, is supposed to be value-driven. To ensure the responsible development of an emerging technology, then, it should be clear which values are relevant to the projected innovation at hand. Methods to identify these values often suppose that values are stable entities. As Kudina and I have argued, however (Journal of Responsible Innovation, 2020), this assumption ignores the dynamic character of values. In our view, valuing is a process and ‘values’ relevant to an innovation are actually (re-)constructed during the RRI process. In this presentation I will first set out this view and then discuss its methodological implications for practicing RRI.

Montag, 31. Mai 2021, 14:00 Uhr

Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben / TU Berlin, Fachgebiet Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung in der Elektronik

Transdisziplinär zur nachhaltigen Elektronik? Herausforderungen sozialwissenschaftlicher Technikforschung zwischen allen Stühlen

Kaum jemand zweifelt noch daran, dass der Weg in nachhaltige Produktions- und Konsumsysteme auch im vermeintlich harten Technologiebereich nur mittels transdisziplinärer Zusammenarbeit gestaltet werden kann. Innovative und nachhaltige Produkte und Verfahrensweisen allein treiben keinen sozial-ökologischen Wandel, dazu ist eine Beteiligung und Befähigung aller Beteiligten an der Wertschöpfung notwendig. Doch der Weg zum Ziel ist steinig: Interdisziplinäre Übersetzungsprobleme, Interessens- und Zielkonflikte und der erforderliche zeitliche, kognitive und organisatorische Mehraufwand sind nur einige der Herausforderungen transdisziplinärer Zusammenarbeit.

Sozialwissenschaftliche Technikforschung kann hier relevante Beiträge leisten, indem sie einerseits eine ganzheitliche Perspektive auf soziotechnische Systeme beisteuert, die die Erforderlichkeit transdisziplinärer Integration und Kollaboration immer wieder vor Augen führt. Anderseits kann sie Prozesswissen zur Transformation von Produktions- und Konsumsystemen beitragen, von der Ebene sozialer Praktiken bis hin zu Wertschöpfungsnetzwerken und übergreifenden Technologie- und Innovationspolitiken. Doch transformations-orientierte sozialwissenschaftliche Technikforschung agiert bisweilen zwischen allen Stühlen: Von den vermeintlich „objektiven“ Ingenieurswissenschaften manchmal nicht ernst genug genommen, scheitern ganzheitlich-systemische Perspektiven nicht zuletzt an der Pfadabhängigkeit und Pragmatik der politischen oder wirtschaftlichen Realität. Der Beitrag zeigt anhand praktischer Projektbeispiele und Erfahrungen der Vortragenden die Potentiale und Herausforderungen sozialwissenschaftlicher Beteiligung an Forschung für nachhaltige Elektronik.

Donnerstag, 22. April 2021, 14:00 Uhr

Prof. Dr. Jens Beckert / Max-Planck-Institut für Gesellschaftsförderung

Imagined Futures and Capitalist Dynamics

In a capitalist system, consumers, investors, and corporations orient their activities toward a future that contains opportunities and risks. How do actors assess the future if this future is open and uncertain? In the talk I attempt to add a new chapter to the theory of capitalism by demonstrating how fictional expectations drive modern economies-or throw them into crisis when the imagined futures fail to materialize. Collectively held images of how the future will unfold are critical because they free economic actors from paralyzing doubt, enabling them to commit resources and coordinate decisions even if those expectations prove inaccurate. Since they are not confined to empirical reality, fictional expectations are a source of creativity in the economy. The talk is based on my book "Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics" (HUP 2016).

Montag, 22. März 2021, 14:00 Uhr

Prof. Dr.-Ing. Christian Berg / TU Clausth, Institut für Aufbereitung, Deponietechnik und Geomechanik (IFAD)

Ist Nachhaltigkeit utopisch? – Grundgedanken des aktuellen Club of Rome-Berichts als Beitrag zur Diskussion um eine systemische Transformation

Fast dreißig Jahre nachdem die Weltgemeinschaft sich erstmals darauf verständigt hat, sind wir vom Ziel einer nachhaltigen Entwicklung immer noch weit entfernt. Daran ändern auch die SDGs nichts. Denn mit den SDGs gehen nicht nur Zielkonflikte einher, sie beantworten auch nicht die Frage, wie nachhaltigeres Handeln konkret unterstützt werden kann. Der Vortrag schlägt angesichts dessen eine Doppelstrategie vor: in systemischer Hinsicht eine umfassende Analyse der „Barrieren der Nachhaltigkeit“ (sozusagen „top-down“), verbunden mit je konkreten Lösungsperspektiven zu deren Überwindung. In Bezug auf die Akteure hingegen konkrete Handlungsprinzipien, die für die Akteure Komplexität reduzieren, an überlieferte Traditionen anknüpfen und den Phasenübergang zu einer nachhaltigeren Gesellschaft „bottom up“ unterstützen.

Montag, 08. Februar 2021, 14:00 Uhr

Prof. Dr. Elif Özmen / Institut für Philosophie - Uni Giessen - Praktische Philosophie

Ist der Transhumanismus ein Humanismus? Über die Grenzen einer „negativen Anthropologie“

Der Vortrag nimmt die ethische Debatte über die Manipulation und Modifikation der menschlichen Natur (Human Enhancement) zum Ausgangpunkt, um die Grundlagen, aber auch die Grenzen des transhumanistischen Programms zu reflektieren.

Zu den Grundlagen gehört eine „negative Anthropologie“. Die menschliche Natur wird als normativ „leer“ interpretiert; insbesondere ließen sich aus ihr keine Gründe ableiten, die natürlichen / naturgegebenen Merkmale und Fähigkeiten des Menschen zu bewahren. Daher befürwortet der Transhumanismus eine Post-Humanität, eine Überwindung der negativ beurteilten menschlichen Begrenzungen, aber gerade keinen Post- bzw. Anti-Humanismus im Sinne einer Umwertung aller Werte. Im Gegenteil, es geht ihm nach seinem eigenen Verständnis um die Präzisierung und Weiterentwicklung einer dezidiert humanistischen Agenda.

Eben hier liegen aber auch die Grenzen des Transhumanismus. Seinen Optimismus bezüglich der rationalen und moralischen Fähigkeiten des Menschen, solche transformativen Eingriffe in das Humanum normativ anzuleiten, kann er mit Bezug auf sein leeres Menschenbild gar nicht aufrechterhalten. Die Ethik des Transhumanismus läuft wortwörtlich ins Leere einer negativen Anthropologie.