KIT-Logo Reinhard Coenen, Karl-Heinz Simon (Hrsg.)

Systemforschung - Politikberatung und öffentliche Aufklärung
Beiträge von und im Umfeld von Helmut Krauch und der Studiengruppe für Systemforschung

Kassel: university press, 2011, ISBN 978-3-86219-204-5, 474 S., 34,00 Euro
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Vorwort

Warum dieses Buch? Die Beiträge, die hier zusammengeführt wurden, stammen aus den Jahren 1966 bis 2004, ergänzt durch einen aktuellen Beitrag zur Programmforschung und die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln. Weite Teile sind also schon fast als "historischer" Text zu werten, und man könnte angesichts der Kurzlebigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse versucht sein, anzunehmen, dass sie nur von nostalgischem Interesse sind. Wir denken das aber nicht: Nicht nur, dass Ideen und Konzepte häufig ihre Zeit brauchen, ehe sie einflussreich und wirksam werden, und das können ja durchaus Jahrzehnte sein und damit leicht im Zeithorizont der aufgenommenen Beiträge liegen. Auch bewähren sich manche Ansätze und gehören dann zu einem Standardrepertoire wissenschaftlichen Arbeitens auf die ohne explizite Bezugnahme zurückgegriffen wird. Hier sind sicherlich insbesondere solche anzutreffen, die auf Methodenvorschläge hinauslaufen und Forschung und Anwendungen sowie die Wissenschaft/Praxis-Schnittstelle bedienen, leiten und strukturieren.

Beides trifft u.E. auf die hier dokumentierten Arbeiten zu. Die in den 1950ern bereits in kritischer Auseinandersetzung mit einer technisch inspirierten Kybernetik und Systemanalyse entwickelten Methodenvorschläge gehören heute durchaus zu den Grundlagen systemtheoretisch orientierter Arbeiten. Im Rahmen des Soft Systems Approach von Checkland und der Critical Systems Theory von Jackson u.a. steht dieses Zusammenspiel von "harten" Methoden und "weichen" Problemsettings im Mittelpunkt. Angeregt wurde dies u.a. durch die Analysen von Rittel zu dem Problemtypus der "wicked problems" und die Orientierung an facettenreichen "real world problems" in einer an Praxisrelevanz orientierten Systemtheorie. In neueren Entwicklungen, z.B. Überlegungen zu einer Systemethik bei von Foerster, fanden diese Entwicklungen ihre Fortsetzung, und sein Augenmerk auf den Erhalt bzw. die Zunahme an Wahlmöglichkeiten dürfte in den hier vorliegenden Beiträgen als eines der den Problemlösungen zugrunde liegendes Motiv angesehen werden.

Auch in einer politikwissenschaftlich ausgerichteten Forschung schlagen sich diese Ideen nieder. Mit dem Begriff der "governance" etwa, mit dem auf die Vielzahl an Entscheidungsstellen in komplexen Problemsituationen hingewiesen wird, und die damit einhergehende Konzeptionalisierung als "multilevel governance", also die Überlegung, dass Analyse- und Entscheidungsprozesse je spezifisch auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden, führen hier dokumentierte Ansätze fort. Auch partizipatorische Ansätze, z.B. in der Szenarienerstellung und -auswertung, wie auch in aktuellen Analyse- und Bewertungsansätzen ("assessments") im Rahmen der Global Change Forschung aber auch der Technologiebewertung, greifen auf diese Vorschläge zurück.

Somit ist eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten gegeben, die auch für heutige Forschungs- und Problemlösungsprozesse von Interesse sind, gerade auch dann, wenn man sich über die Herkunft der Ansätze im Alltäglichen keine Rechenschaft mehr ablegen möchte.

Die hier dokumentierten Arbeiten sind ohne Zweifel Teil der unter dem Terminus Systemforschung (oder "systems movement") zusammengefassten Aktivitäten. Diese Ansätze betonen allesamt die Wichtigkeit der Berücksichtigung unterschiedlicher Analyseebenen, die der einzelnen Komponenten und die der übergreifenden systemischen Zusammenhänge. Die Ansätze unterscheiden sich in der Bedeutung, die beiden Ebenen zugemessen wird: Wird auf der Grundlage der Analyse der einzelnen Komponenten und deren Verknüpfungen das System ermittelt, oder wird ein "ganzheitlicher" Blick versucht, mit dem dann einzelne Komponenten erst in Abhängigkeit einer übergreifenden Systemidee interpretierbar werden?

Die Vielfalt an Ansätzen wurde in neuerer Zeit z. B. einem "system of system methodologies" (Paul Keys) zusammengefasst. Es werden dabei harte und weiche Methoden unterschieden, je nach Ziel des Vorhabens und je nach Bösartigkeit" der zu bearbeitenden Probleme. Churchman hat bereits früh eine auf Integration und Partizipation ausgerichtete Vorgehensweise gefordert und damit die zur Anwendung kommenden Methoden (wie etwa die Computersimulation, Optimierungs- und Bewertungsansätze, synoptische und morphologische Verfahren) in einen Anwendungskontext gestellt, in dem die Rolle des "Experten" zumindest zurückgenommen und auf Moderation und Untersützung bei der Problembearbeitung reduziert wurde. Die Rollen, die unterschiedliche Beteiligte einnehmen, sollten danach auch klar benannt werden (eine modernere Variante ist das CATWOE-Schema von Checkland in dem zwischen Auftraggebern, Betroffenen, nutzbaren Ressourcen etc. unterschieden wird).

Die meisten Beiträge in diesem Buch stammen von Mitgliedern der ehemaligen Studiengruppe für Systemforschung (SfS) oder sind wenigstens in ihrem Umfeld entstanden. Zum Teil sind sie von ehemaligen Mitarbeitern nach deren Auflösung in einer neuen institutionellen Umgebung geschrieben worden oder stammen aus dem universitären Umfeld, insbesondere früherer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Projekten an der Universität Kassel. Die SfS ist aus einer im Jahr 1957 von Natur- und Sozialwissenschaftlern an der Universität Heidelberg gebildeten informellen Arbeitsgruppe hervorgegangen. Sie beschäftigte sich zu Beginn mit dem Entwurf von Chemie-Kernreaktoren und theoretischen und experimentellen Untersuchungen zur Strahlenchemie. Ab dem Jahr 1959 gelang es der Gruppe, eine Förderung durch das damalige Bundesministerium für Atomenergie und Wasserwirtschaft zu erhalten. Diesem Ministerium kam in jener zeit zunehmend die Rolle eines generellen Förderers von Forschung und technischer Entwicklung in Deutschland zu. Damit einer ging auch eine thematische Umorientierung der Gruppe, die sich ab 1961 u.a. auch auf Veranlassung des damaligen Ministers Prof. Dr. S. Balke zunehmend mit Fragen der Planung, Organisation und Rationalisierung von Forschung, beschäftigte. Insbesondere galt es, in den USA gewonnene Erfahrungen und die dort entwickelten Methoden (z. B. der RAND Cooperation) zu analysieren, mit dem Ziel, diese auch in Deutschland zu nutzen. Ein erheblicher Teil der Arbeiten der Gruppe, die ab 1964 unter dem Namen Studiengruppe für Systemforschung firmierte, war dabei unmittelbar an den Aufgaben dieses Ministeriums bzw. seiner Nachfolger (Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung/BMwF und Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF) orientiert.

Mit dieser Orientierung wurde die SfS mit der Bearbeitung verschiedener, das Ministerium unmittelbar tangierende Aufgaben betraut. Diese betrafen u.a. die statistische Erfassung der staatlichen und industriellen Forschungs- und Entwicklungsausgaben, deren internationale Standardisierung im Rahmen der OECD, internationale Vergleiche der Forschungsförderung im Hinblick auf Prioritätensetzung und Förderverfahren sowie die Mitarbeit bei der Erstellung der Bundesforschungsberichte. Aus dieser Zuarbeit für das Ministerium entwickelte die SfS eigenständige Forschungsarbeiten. Sie betrafen unter anderem die kritische Analyse von Prioritätensetzungen in der Forschungspolitik, ihre Ursachen sowie Erhebungen der Forschungsprioritäten der Bevölkerung und gesellschaftlicher Gruppen (siehe dazu die Beiträge in Kapitel 4). Diese Analysen führten auch zur Entwicklung des Konzepts für ORAKEL (Organisierte Repräsentative Artikulation Kritischer Entwicklungslücken), das bisher unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen in die Prioritätensetzung einbinden sollte. Auf diesen Ansatz wird im Buch noch mehrfach eingegangen.

Durch die Mitarbeit bei der Erstellung der Bundesforschungsberichte, die neben konzeptionellen Beiträgen auch Kommentierungen einzelner Forschungsprogramme betraf, wurde die SfS auch in die Entwicklung inhaltlicher Forschungsprogramme involviert und führte hierzu im Auftrag des Ministeriums Problemfeldanalysen durch, z. B. zur Umweltproblematik, zu Anwendungen der EDV in verschiedenen Bereichen (z. . Unterrichtstechnologien) und zu möglichen Themen eines Programms "Gesellschaftswissenschaften".

Die Folgen neuer Technologien waren von Anbeginn ein Thema der SfS (siehe Beitrag 4.6). Das Gutachten der SfS zur parlamentarischen Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung (TA) für den Deutschen Bundestag legte den Grundstein für weitere Arbeiten nach Auflösung der SfS im Jahre 1975, die ehemalige Mitarbeiter im Forschungszentrum Karlsruhe fortführten (siehe Beiträge in Kapitel 1 sowie Beiträge 4.7 und 4.8).

Systemforschung und Systemanalyse waren allein schon wegen des Namens genuines Forschungsgebiet der SfS (siehe hierzu die Beiträge 4.2 bis 4.4), ihre Anwendung in der Praxis waren Schwerpunkte großer Projekte in der 2. Hälfte der 1960er Jahre, so z. B. Systemanalysen im Patentamt, im Bundeskanzleramt und im Bundespresseamt. In diesen Projekten ging es um die Entwicklung moderner Informationssysteme und die Rationalisierung von Verwaltungsabläufen. Das Konzept der SfS war bei diesen Projekten, die Mitarbeiter in die Analysen und die Lösung der Aufgabenstellung weit möglichst einzubinden, d. h. im Sinne von Systemgestaltung als Hebammenkunst ("Maieutische Systemanalyse").

Damit kann auf eine beachtliche Vielzahl an Aufgaben wir Umweltanalysen, Informationssysteme, Kommunikationsprozesse hingewiesen werden, etliche davon werden in den einzelnen Beiträgen des Buches nocht näher ausgeführt.

Die Beiträge waren von vornherein an der Schnittstelle von Politik und Öffentlichkeit angesiedelt. Zwar war selbstverständlich auch immer ein hoher wissenschaftlicher Anspruch konstitutiv, insbesondere angesichts der Situation fehlender integrativer Problemanalyse- und Problemlösungsmethoden, aber die Arbeiten sollten nie zu einem Selbstzweck einer isoliert arbeitenden Wissenschaftseinrichtung werden. Beispielhaft ist dies an denjenigen Arbeiten sichtbar, die heute als "Technikfolgenabschätzung" bezeichnet werden.

Nach der Auflösung der Studiengruppe waren in Deutschland an zwei Orten die Traditionen fortgeführt und Theorien und Methoden weiterentwickelt worden. Das war zum einen, wie bereits oben erwähnt, Karlsruhe, dort am "Forschungszentrum Karlsruhe - Technik und Umwelt" im "Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse". Das Forschungszentrum Karlsruhe wurde 2008 zusammen mit der Universität Karlsruhe zum "Karlsruher Institut für Technologie" (KIT).

Der andere Ort war Kassel. In der dortigen Kunsthochschule hatte Helmut Krauch von 1972 an die Professur für "Systemdesign" inne. Er gab dem Fachgebiet Systemdesign eine eigene Note, insbesondere durch die Verknüpfung von Projekten aus der Technikentwicklung (z. B. zu Stirlingmaschinen und Kühl- und Reinigungstechniken auf CO2-Basis) mit künftlerischen und sozial- sowie kulturwissenschaftlichen Überlegungen. Beispielhaft wurde diese Verknüpfung in einer Ausstellung "Konzeptkunst" in der Kasseler documenta-Halle im Jahr 1995 gezeigt.

Großer Dank gebührt dem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse im KIT für die Übernahme der Druckkosten. Wir danken Gotthard Bechmann für die Unterstützung bei der Auswahl der Beiträge und für den Titelvorschlag. Die Grafik auf dem Umschlag verwendet einen Ausschnitt aus einem Fotogramm aus dem Jahr 1994 von Floris Neusüss sowie aus einer Karikatur von Marie Marcks. Vielen Dank für die Erlaubnis, diese für den Umschlag zu verwenden. Eingebunden ist zudem eine Arbeit von Helmut Krauch, in der er die Begriffe Wissenschaft und Leidenschaft kombiniert.

Reinhard Coenen / Karl-Heinz Simon, Juli 2011

 

Erstellt am: 15.12.2011 - Kommentare an: webmaster